Prof. Matthias Glaubrecht fordert mehr Aufmerksamkeit für den Verlust der Biodiversität
Wie die Zerstörung von Lebensräumen unsere Zukunft gefährdet und was wir tun können, um diese Entwicklung aufzuhalten.
Prof. Matthias Glaubrecht ist einer der führenden Köpfe im Bereich der Biodiversitätsforschung. Als Professor für Biodiversität der Tiere an der Universität Hamburg und wissenschaftlicher Leiter des Projekts Evolutioneum setzt er sich unermüdlich für den Schutz der natürlichen Welt ein. Seine Expertise und jahrelange Erfahrung als Kurator und Direktor des Museums für Naturkunde Berlin sowie als Autor und Wissenschaftsjournalist haben ihn zu einem der renommiertesten Naturwissenschaftler seiner Generation gemacht.
In diesem Interview erklärt Glaubrecht, warum die gängigen Maßnahmen des Naturschutzes nicht ausreichen, um das Artensterben zu stoppen und wie wir als Gesellschaft endlich den Ernst der Lage erkennen müssen. Er fordert eine grundlegende Neubewertung unserer Beziehung zur Natur und stellt klar: Der Verlust der Biodiversität ist eine der größten Krisen unserer Zeit – eine Krise, die sich nicht länger verdrängen lässt. Glaubrecht zeigt auf, dass es nicht nur um den Schutz von einzelnen Arten geht, sondern um den Erhalt funktionierender Ökosysteme, die die Grundlage für unser Überleben bilden.

Mit beeindruckender Klarheit und einem tiefen Verständnis für die Zusammenhänge zwischen Mensch und Natur, fordert Glaubrecht zu einer radikalen Wende im Umgang mit der Umwelt auf.
Herr Professor Glaubrecht, wir haben in Deutschland sage und schreibe 8.957 Naturschutzgebiete – immerhin 6,5 Prozent der Gesamtfläche der Bundesrepublik. Hinzu kommen 5.200 Fauna-Flora-Habitat- und Vogelschutzgebiete mit zusammen 15,5 Prozent der Landesfläche bzw. 45 Prozent der marinen Fläche Deutschlands. Ist Deutschland damit nicht ein vorbildlicher Naturschützer?
Ja, das könnte man auf den ersten Blick denken – und genau das ist das Problem. Deutschland gibt sich gern mit Zahlen zufrieden und die Bundesregierung präsentiert diese als Erfolge. „Schaut, über 30 Prozent unserer Fläche ist geschützt“, hört man oft. Doch in Wirklichkeit sind diese Zahlen größtenteils Täuschung. Der Schutz besteht häufig nur auf dem Papier. Es gibt keine echte Wildnis mehr – und was noch schlimmer ist: In den sogenannten Schutzgebieten ist die Natur oft kaum mehr vorhanden. Der sogenannte Naturschutz ist in vielen Fällen ein Witz.

© EuroGeographics
Man kann diese Problematik auch global betrachten: Der weltweite Anstieg von Naturschutzgebieten klingt auf den ersten Blick gut, doch gleichzeitig erleben wir eine katastrophale Biodiversitätskrise. Der Anstieg der Flächen schützt uns nicht vor dem Artensterben – ganz im Gegenteil. Der Schutz mag flächenmäßig steigen, doch die Krise verschärft sich weiter.
Was genau bedeutet das für den Naturschutz in Deutschland und weltweit? Warum greifen die klassischen Schutzmaßnahmen nicht?
Die Naturschutzgebiete hindern uns nicht daran, weiterhin die Landschaft zu zerstören, sie zu vergiften und dabei Tiere und ganze Arten zu verlieren. Im Gegenteil, sie fördern sogar diese Zerstörung. Das größte Problem liegt in der Ineffektivität der klassischen Naturschutzinstrumente. Sie versagen auf ganzer Linie.
Ein Beispiel: In Deutschland wird wirklich jedes noch so kleine Schutzgebiet gezählt, egal wie gering der tatsächliche Schutzstatus ist. Ein Skandal war für mich, als in den Medien gemeldet wurde, dass man im Nationalpark Wattenmeer die Grundschleppnetzfischerei verbieten wolle. Dort wurde gefischt? Das ist ein klassisches Beispiel für den Betrug am Naturschutz – wir erlauben immer noch zerstörerische wirtschaftliche Aktivitäten, selbst in international geschützten Gebieten.
Nimmt man den Naturschutzes in Deutschland nicht wortwörtlich ernst?
In Deutschland wird einfach viel zu oft der Eindruck erweckt, man tue etwas für den Naturschutz, während in Wirklichkeit kaum etwas passiert. Ein weiteres Beispiel ist das Sylt-Außenriff, das als Naturschutzgebiet deklariert wurde. Diese Flächen erscheinen in der Statistik als Erfolge, doch in der Realität bleibt der Schutzstatus unverändert. Es ist ein Taschenspielertrick – eine leere Zahl, die nichts bewirkt.

Wenn man sich nur an den Zahlen orientiert, könnte man denken, Deutschland sei ein Vorreiter im Naturschutz. Aber dieser Schein trügt – in der Praxis bringt es uns keinen Schritt weiter.
Wie sieht es in anderen Ländern aus?
Interessanterweise sind viele Länder des globalen Südens im Naturschutz oft viel weiter als wir. Trotz ihrer Armut stellen diese Länder oftmals einen erheblichen Teil ihres Gebietes unter Schutz, ohne wirtschaftliche Nutzung zuzulassen. Sie haben erkannt, dass echter Naturschutz nur ohne die übliche wirtschaftliche Ausbeutung der Flächen funktioniert. Das sollten wir uns dringend zum Vorbild nehmen – auch wenn diese Länder größere Herausforderungen zu bewältigen haben.
Wie sieht denn überhaupt der Erhaltungszustand der geschützten Lebensräume aus?
Wie bereits gesagt, gibt es in Deutschland keine echten Wildnisgebiete mehr. Wir leben in einer Kulturlandschaft. Das größere Problem ist, dass wir diese Kulturlandschaft nicht pflegen, sondern weiter ausbeuten.
Die Landschaft ist so stark verändert, dass sie kaum noch in der Lage ist, sich selbst zu regenerieren. Das zeigt sich besonders in der Fragmentierung der Gebiete. Wir haben viele kleine, isolierte Flächen, die ohne Verbindung zueinander kaum noch eine funktionierende Natur bieten können.
Was genau bedeutet in diesem Zusammenhang der Begriff „ausgeräumte Landschaft“?
Eine „ausgeräumte Landschaft“ bedeutet, dass wir keine zusammenhängenden Naturräume mehr haben, in denen nicht Hecken, Bäume und andere Landschaftelemente fehlen. Zudem sind, wie gesagt, die geschützten Flächen zu klein und oft isoliert voneinander. In Hamburg beispielsweise ist man stolz, zehn Prozent der Stadtfläche unter Naturschutz gestellt zu haben – was grundsätzlich gut klingt. Doch das ist, als würde man ein paar Fußballfelder zusammenrechnen und es als echten Naturschutz verkaufen. Insgesamt sind in Deutschland 50 Prozent der Schutzgebiete kleiner als 50 Hektar. Das ist zu klein, weil es nicht wirklich ausreichend Schutz bietet.
Warum ist das ein Problem, wenn die Schutzgebiete zu klein sind?
Kleine Flächen können keine funktionierenden Ökosysteme bieten. Diese kleinen, isolierten Gebiete sind von der Außenwelt abgeschnitten, und Tiere sowie Pflanzen können nicht mehr wandern oder neue Lebensräume finden. Wir haben zu viele kleine Inseln und zu wenig großflächigen Schutz. Das führt dazu, dass der Naturschutz nur auf dem Papier existiert, aber nicht in der Realität. Diese Gebiete dienen oft nur als Restflächen und bringen kaum etwas für die Arten, die dort leben.
Oft werden Schutzgebiete ausgewiesen, die praktisch keinen echten Nutzen für die Biodiversität haben, eben weil sie zu klein oder isoliert sind. Insofern schützt man damit weder die Landschaft noch die Arten.
Liegt der schlechte Zustand der Schutzgebiete an zu geringem Engagement der Schützer oder was sind die Haupttreiber?
Es hat einfach lange gedauert, bis man erkannt hat, wie entscheidend große, zusammenhängende Flächen für den Naturschutz sind. Diese Erkenntnis ist noch relativ neu, aber sie verändert die Perspektive. Zu lange haben wir uns nur auf die wirtschaftliche Nutzung konzentriert – und das, obwohl wir mittlerweile wissen, dass wir Platz für die Natur lassen müssen, wenn wir weiterhin auf diesem Planeten leben wollen.
Laut dem Weltwirtschaftsforum ist der Verlust der biologischen Vielfalt ein erhebliches wirtschaftliches Risiko. Integrierte Ökosysteme sichern Nahrungsmittelversorgung und Gesundheit und schützen vor Naturkatastrophen. Unternehmen und Finanzmärkte müssen diese Risiken viel stärker in ihre Bewertungsmodelle einbeziehen, um langfristige Schäden zu vermeiden. Warum dauert es so lange, solche Einsichten zu verankern?
Das Problem liegt in unserem grundlegenden Verständnis von Natur. Wir betrachten sie immer noch zu oft als kostenlose Ressource, die wir nach Belieben ausbeuten können. In unseren ökonomischen Rechnungen wird die Natur ausgeklammert, obwohl sie für unser Überleben unabdingbar ist. Wir müssen die Ökologie endlich genauso ernst nehmen wie die Wirtschaft.

Gibt es in dieser Hinsicht positive Entwicklungen, die Hoffnung machen?
Ja, es gibt positive Entwicklungen. Immer mehr Menschen erkennen, dass sich etwas ändern muss. Wenn es uns gelingt, diese Erkenntnisse unideologisch und pragmatisch umzusetzen, könnte sich tatsächlich etwas bewegen. Es ist eine Frage des Denkens: Wir müssen uns fragen, wie wir in Zukunft leben wollen und wie wir dabei die Natur berücksichtigen. Der Wandel ist möglich, aber nur, wenn wir bereit sind, alte Denkweisen zu hinterfragen.
Lassen Sie uns einmal konkrete Zahlen anschauen: Global gesehen sollen 75 Prozent aller daraufhin untersuchten Arten stark unter Druck stehen. Können Sie das näher erläutern?
Diese Zahlen stammen zum Beispiel aus dem jüngsten Living Planet Report des WWF. Aber das Problem ist, dass wir nur über eine kleine Auswahl an Arten sprechen – hauptsächlich Vögel und Säugetiere, für

die wir ausreichend Daten haben. Immerhin sehen wir für diese, dass zwei Drittel der Populationen dramatische Bestandsrückgänge erleben. Doch das ist nicht nur bei „ikonischen“ Arten wie dem Tiger der Fall – dieser wird zwar nicht aussterben, aber seine Zahl nimmt drastisch ab. Der Tiger mag nicht auf der Roten Liste erscheinen, aber seine Bedeutung für die Ökosysteme wird zunehmend irrelevant.
Ein weiteres gutes Beispiel sind die Großkatzen, wie der Schneeleopard. In 13 asiatischen Ländern ist ihre Zahl so niedrig, dass sie kaum noch in der Lage sind, sich fortzupflanzen. Das gleiche gilt für den Panda und den asiatischen Elefanten – sie leben in kleinen, isolierten Gebieten, und ihre Bestände sind stark gefährdet. Ihre Zahl mag nicht sofort zusammenbrechen, aber ihre Funktion im Ökosystem wird immer bedeutungsloser.
Was bedeutet das für die Natur insgesamt, wenn so viele Tiere und Pflanzen unter Druck stehen?
Das eigentliche Problem liegt darin, dass wir die Bedeutung vieler Arten unterschätzen. Es geht nicht nur um das Aussterben einzelner Arten, sondern um die Zerstörung von Funktionen, die diese Tiere und Pflanzen in ihren Ökosystemen erfüllen.
Wir verlieren Substanz, die wir als Gesellschaft dringend brauchen: saubere Luft, gesunde Böden, Bestäubung unserer Nahrungs- und Nutzpflanzen – und damit letztlich unsere Lebensgrundlagen. Wir sind auf die Natur angewiesen, auch wenn wir das oft nicht wahrnehmen, weil wir alles für selbstverständlich halten – wie unsere Gesundheit, die erst dann zur Kenntnis genommen wird, wenn sie gefährdet ist.
Was können wir tun, um diese stille Krise zu stoppen?
Das Bewusstsein für diese Krise muss sich endlich ändern. Wie bei der AKW-Bewegung, als wir vermeintlich „Strom aus der Steckdose“ nahmen, ohne zu hinterfragen, woher er kam, denken viele heute, die Natur sei einfach da. Wir trinken Kaffee, ohne zu wissen, dass Wildbienen die Blüten bestäuben, oder dass Mückenarten die der Kakao-Pflanzen bestäuben. Dieses stille Sterben der Natur wird uns irgendwann brutal treffen, wenn wir nicht handeln. Wenn wir unsere Sicht-, Wirtschafts- und vor allem Lebensweise nicht ändern, wird uns die Natur auf erschreckende Weise vor Augen führen, wie sehr wir auf sie angewiesen sind.
Heißt das, dass wir zwar wenige Arten mit hohem Aufwand schützen, aber gleichzeitig Gefahr laufen, eine Million Arten oder mehr zu verlieren, wie der Weltbiodiversitätsrat sagt?
Genau. Der Weltbiodiversitätsrat spricht von einer Million Arten, die weltweit bedroht sind, aber die Zahl könnte sogar noch höher sein. Wir fokussieren uns auf ein paar bekannte Arten, während die unzähligen kleineren, weniger bekannten Arten wie Insekten und Pflanzen aus unserem Blickfeld verschwinden. Wir verlieren die Substanz der Biodiversität, ohne es zu merken.
Warum ist die genaue Zahl der betroffenen Arten so schwer festzustellen?
Wir haben für viele Arten nur unzureichende Daten, und viele der wirklich bedrohten Arten werden übersehen. Es geht nicht nur um die bekannten – es sind auch die kleinen, unsichtbaren Arten, deren Verlust uns langfristig weit mehr schadet, als wir erkennen.
Was sind die Hauptfaktoren, die zu diesem massiven Verlust an Biodiversität führen?
Der Haupttreiber ist die euphemistisch so genannte „Landnutzungsänderung“ – vor allem die Rodung von Wäldern etwa in den Tropen und die intensive Landbewirtschaftung bei uns, gepaart mit dem immensen Ressourcenverbrauch, besonders in den Industrienationen. Aber auch das Wachstum der Weltbevölkerung – vor allem im globalen Süden – führt zu einem weiteren Anstieg des Drucks auf die Natur. Und der Raubbau an Lebensräumen wird weitergehen, wenn wir die noch immer wachsende Menschheit versorgen müssen.
Warum ist der Verlust von Arten nicht einfach das Aussterben einzelner Tiere, sondern ein viel größerer Verlust?
Es geht nicht nur um das Aussterben von Tieren, sondern um den Verlust ihrer ökologischen Funktionen. Wenn Arten wie der Wolf oder der Luchs verschwinden, verlieren wir ganze Ökosystemfunktionen. Wenn der Seeotter verschwindet, kollabiert das gesamte Ökosystem – das ist der Kaskadeneffekt, der sich von ganz oben in den ökologischen Pyramiden bis nach unten auswirkt. Wenn wir weiterhin Kettenglieder aus der Natur entfernen, gefährden wir die Stabilität ganzer Ökosysteme.
Was bedeutet das für uns als Menschheit, wenn diese Kippunkte erreicht werden?
Wenn wir solche Belastungsgrenzen überschreiten, werden wir eine Natur erleben, die uns nicht mehr die Ressourcen und Stabilität bietet, die wir benötigen. Die sogenannten „planetaren Grenzen“ sind keine abstrakte Theorie, sondern ein ernstes Problem, das uns bald in die Knie zwingen wird. Denn wenn wir Biodiversität auf allen Ebenen verlieren, spielen wir gleichsam mit unserer Lebensversicherung.
Der Verlust von Biodiversität hat direkte Auswirkungen auf das Klima. Wäldern und Feuchtgebieten, die als wichtige Kohlenstoffsenken fungieren, wird die Fähigkeit entzogen, CO₂ zu binden. Der Rückgang von Bestäubern und anderen Arten gefährdet landwirtschaftliche Produktionssysteme und erschwert die Anpassung an den Klimawandel. Ich finde es nicht uninteressant und auch nicht falsch, darüber zu sprechen, dass es Punkte gibt, an denen sich bestimmte Entwicklungen automatisieren, die wir nicht mehr aufhalten können. Eben die sogenannten Kipppunkte. Was aber nicht geht, – und das wird von Klimaforschern oft gemacht –, ist das zu bepreisen, indem man sagt, bei 2,1 Grad passiert dies oder das.
Man sollte Kipppunkte nicht als feste Grenzen sehen. Diese klare Schwelle – „bis hierhin geht es gut, ab hier ist es tödlich“ – existiert nicht, auch beim Klima nicht. Es gibt keine empirischen Belege für solche Fixpunkte. Der Fokus auf diese simplen Schwellenwerte ist gefährlich und wissenschaftlich fragwürdig. Was wir wirklich verstehen müssen, ist, dass jeder weitere Grad und jedes Prozent den Verlust der Biodiversität massiv vorantreibt.
Was steckt denn hinter dieser fixen Vorstellung von Kipppunkten in der Klimaforschung?
Die Idee von Kipppunkten hat sich als Marketingbegriff durchgesetzt, der in den Köpfen der Menschen hängen blieb. Aber die wirkliche Gefahr liegt in der fortschreitenden Zerstörung der Biodiversität. Wenn wir das weiter ignorieren und weiterhin alles dem Klimaschutz unterordnen, verlieren wir langfristig die Lebensgrundlage der Erde. Das ist die echte Krise, die in vielen Diskussionen untergeht.
Wir brauchen eine ganzheitliche Herangehensweise. Wenn ein Patient ins Krankenhaus kommt, weil mehrere seiner Organe in Mitleidenschaft geraten sind, braucht er nicht nur einen Spezialisten, sondern ein ganzes Team. Die Klimaforschung allein ist nicht genug. Wir müssen den gesamten Umweltschutz in einen größeren Kontext setzen und erkennen, dass es nicht nur um Temperaturveränderungen geht, sondern um die biologische Grundlage unseres gesamten Lebens.
Aber noch einmal: Ich habe gelesen, dass nur rund 870 Wirbeltierarten in den letzten 500 Jahren ausgestorben sind. Das klingt nicht gerade nach dem sechsten Massensterben der Arten in der Erdgeschichte. Können Sie das näher erläutern?
Diese Zahl bezieht sich auf gut dokumentierte Wirbeltiere. Aber das Problem ist, dass diese Zahl die wahre Tragweite der Krise verzerrt. Wir verlieren Tausende von Arten, von denen wir keine Daten haben – vor allem kleinere Arten, die aber in den Ökosystemen eine wesentliche Rolle spielen, etwa Organismen im Boden und in den Meeren. Es geht nicht nur um die berühmten Tiere wie den Dodo oder den Tiger. Der weitgehend unbemerkte Verlust funktionaler Arten und ihrer Ökosystemdienste ist der wahre Skandal.

Warum ist es gefährlich, nur auf die ausgerotteten Arten zu schauen?
Die Biodiversitätskrise geht weit über das Aussterben einzelner Arten hinaus. Sie betrifft das gesamte ökologische Gleichgewicht – die Lebensräume, die Populationen und die funktionale Vielfalt. Der Verlust dieser Funktionen gefährdet unsere Lebensgrundlage. Der naive Glaube, dass das Aussterben des Dodos uns nicht schadet, lenkt nur von der eigentlichen Bedrohung ab. Es geht darum, dass wir die Ökosysteme destabilisieren und die Funktionsweise der Natur zerstören. Sie aber liefert uns erst all das, was wir zum Leben brauchen.
Könnte diese Art von Fehlinformation die Diskussion um den Klimawandel, die Biodiversitätskrise und den Umweltschutz insgesamt gefährden?
Absolut. Diese Fehlinformationen lenken die Diskussion in die falsche Richtung. Es geht nicht darum, Einzelpersonen wie Flugreisende zu beschuldigen, sondern darum, dass wir als Gesellschaft keine klare politische Richtung und vernünftige Wirtschaftsweise haben, um schädliche Aktivitäten zu stoppen. Die wahre Herausforderung ist, dass wir immer noch mit fossilen Brennstoffen fliegen und die Klimaauswirkungen nicht ernst genug nehmen. Wir brauchen eine klare Politik, die das Fliegen so teuer macht, dass sich jeder zweimal überlegt, ob es notwendig ist.
Helfen Rote Listen – sehe ich das richtig – auch nicht den Stand der Biodiversität zu bewerten?
Rote Listen sind nicht genug. Die Biodiversität zu messen, ist ohnehin komplex. Was wir wirklich brauchen, sind präzise Populationszahlen als Indikator für das Funktionieren von Lebensräumen. Aber die fehlen uns, weil wir die Biodiversitätsforschung jahrzehntelang vernachlässigt haben. Die wissenschaftliche Gemeinschaft hat das schlichtweg ignoriert, obwohl es dringend nötig wäre, die ökologischen Auswirkungen zu verstehen.
Wie arbeiten eigentlich Artenforscher und was wissen wir wirklich über Biodiversität?
Wir sollten die Taxonomen als „Bionauten“ sehen – das gibt ihrer Arbeit das nötige Gewicht. Ein Astronaut geht ins Weltall, um neue Welten zu entdecken – warum tun wir das nicht bei der Biodiversität und entdecken erst einmal unsere Lebenswelt vollständig? Diese Forscher beschreiben und benennen Arten, was für das Verständnis der Ökosysteme von grundlegender Bedeutung ist. Doch leider haben wir diese Forschung lange Zeit vernachlässigt.
Wir müssen wissen, welche Arten noch existieren und welche Funktionen sie erfüllen. Diese Daten fehlen uns – und das ist entscheidend, um den weiteren Verlust der Biodiversität zu verhindern. Doch die Forschung wird nicht ausreichend gefördert. Studenten scheuen sich deshalb, in diesem hochspannenden Bereich zu arbeiten, weil es dort kaum Stellen gibt; dagegen machen die meisten Mikro- und Molekularbiologie, weil sie dort eher Aussicht auf Beschäftigung haben. Wenn wir die biologischen Grundlagen verstehen wollen, müssen wir die „bionautische“ Forschung dringend unterstützen.
Gibt es neue Methoden?
Früher haben wir mit einfachen Stammbaum-Hypothesen gearbeitet. Heute verwenden wir phylogenetische und molekulargenetische Methoden, die uns eine viel genauere Bestimmung der Verwandtschaftsbeziehungen ermöglichen. Wir können heute präzise sagen, wie eng der Mensch mit den Schimpansen verwandt ist. Diese Methoden sind ein Meilenstein, der es uns ermöglicht, die Biodiversität objektiver und präziser zu erfassen. Die Technologie hat sich so stark weiterentwickelt, dass wir nun Hypothesen testen können, die früher nur spekulativ waren.
Neue Technologien wie Satellitenbilder, Drohnenüberwachung und Genomsequenzierung revolutionieren die Biodiversitätsforschung. Diese Technologien ermöglichen es uns, präzisere Daten zu sammeln und sogar versteckte Biodiversitäts-Hotspots zu entdecken, die vorher undurchdringbar waren. Doch um ihr volles Potenzial auszuschöpfen, brauchen wir deutlich mehr Investitionen in diese Technologien und deren Integration in Naturschutzstrategien. Kann KI langfristig helfen?
Das war die Frage, die mich auch beschäftigt hat. Was verstehen wir unter KI? Welchen Teil davon können wir sinnvoll einsetzen?
In der Biodiversitätsforschung brauchen wir mehr Menschen, die intelligent mit KI arbeiten, nicht weniger. KI allein wird ihre Arbeit nicht ersetzen. Sie kann keine neuen Arten entdecken – das müssen wir Menschen tun. Aber sie kann uns massiv unterstützen, vor allem bei der Analyse einer Vielzahl von Bilddaten im Großen wie im Kleinen – also etwa bei der Satellitenbild-Untersuchung pazifischer Inseln, um den Anteil früherer Kokospalmenplantagen zu ermitteln, oder mittels Satellitenüberwachung der Erde, um Veränderungen in Lebensräumen zu erkennen. Vieles könnte durch KI beschleunigt werden. Aber das eigentliche Problem ist: Wir haben nicht genug Fachleute, die wissen, wie KI sinnvoll eingesetzt werden kann. KI ist ein hervorragendes Hilfsmittel, aber sie wird die Biologie nicht revolutionieren.
Ein großes Problem sind jedoch die Umweltauswirkungen von KI, für die enorm viel zusätzliche Energie benötigt wird; ebenso wie für das Mining von Kryptowährungen enorm viel Energie verbraucht wird. Die enorme Rechenleistung hinter solchen Anwendungen frisst derart viel Strom, dass wir uns nur noch mit schlechtem Gewissen in unser Elektroauto setzen könnten, wenn wir parallel in Bitcoin investiert haben. KI kann uns helfen, aber sie ist keine einfache Lösung für unser Biodiversitätsproblem. Sie kann uns unterstützen, aber die wahre Lösung muss aus einem globalen Umdenken und gemeinsamen Handeln kommen.
Hilfreich wäre es, wenn wir eine Inventur der Natur machen könnten. Ich habe von Ihrem NASA-Projekt gelesen. Können Sie darüber etwas erzählen?
Es ist im Buch ein Gedankenspiel. Wenn die NASA heute eine Pressemitteilung herausgäbe, dass sie einen Exoplaneten mit Leben entdeckt habe, würde sie weltweit ein Team zusammenstellen, das sofort eine Mission dorthin startet. Und dabei haben wir ein unbekanntes Projekt direkt vor unserer Haustür – unseren eigenen Planeten. Warum haben wir noch keine NASA-Mission für die Biodiversität auf der Erde?
Wenn wir die Milliarden, die derzeit in andere Projekte fließen, wie die bemannte Raumfahrt zu Mond und Mars, in die Biodiversitätsforschung umleiten würden, könnten wir eine umfassende Untersuchung der Erde durchführen. Aber bislang gibt es nur kleine kurzfristige Projekte, die uns nicht an das eigentliche große Ziel bringen. Ein echtes „NASA-Mondprogramm“ für die Natur – das brauchen wir dringend.
Warum ist es so schwierig, eine solche Inventur der Natur durchzuführen?
Es dauert zu lange, wenn wir es wie bisher betreiben. Für nur eine Million bekannte Tier- und Pflanzen-Arten haben wir 250 Jahre gebraucht. Wenn wir nun 2, 4 oder sogar 8 Millionen Arten beschreiben, wird es viele Jahrzehnte dauern. Die größte Herausforderung: Wir wissen noch nicht einmal genau, was wir schon entdeckt haben und wie sich neue Arten von diesen unterscheiden. Eine zusammenhängende globale Datenbank fehlt, die uns einen Überblick geben könnte.
Das hat Humboldt doch schon gut vorbereitet, oder?
Humboldt wird oft überschätzt und falsch dargestellt. Er war ein großartiger Naturforscher, aber seine Wissenschaft war vor Darwin. Wenn er heute eine seiner jüngsten Biografien gelesen hätte, hätte er sich verwundert gefragt: „Wer ist das?“ Seine Herangehensweise an die Darstellung der Natur war in vielerlei Hinsicht veraltet, und wir dürfen nicht weiterhin an diesen alten Vorstellungen festhalten. Humboldt hat es damals gut gemeint, aber seine Methoden waren oft unzureichend.

Wir brauchen den Schutz der Natur nicht nur in größerem Ausmaß, er muss auch strategisch und effektiver werden. Der Zoologe E.O.Wilson hat mit „Half Earth“ eine zielführende Vision entwickelt. Was hat es damit auf sich, und was ist daraus geworden?
Half Earth ist eine radikale, aber wichtige Idee. Als ich 2016 erstmals von ihr las, dachte ich zunächst, dass sie utopisch sei. Aber inzwischen sehe ich, dass wir bis Mitte des Jahrhunderts durchaus 50% der Erde schützen könnten. Die Hälfte der Erde ist derzeit weniger intensiv vom Menschen beeinflusst, hier könnte der Schutz dieser Gebiete die Krise stoppen. Doch auch die Gebiete, die wir intensiv nutzen, müssen nachhaltiger gestaltet werden. Es geht nicht nur um den exklusiven Schutz, sondern um die Art und Weise, wie wir mit diesen Flächen in der Nutzung umgehen.
Wie realistisch ist es, diese Vision tatsächlich umzusetzen?
Der Mensch ist inzwischen ein so starker Evolutionsfaktor, dass wir praktisch alle Lebensräume beeinflussen. Das ist die Herausforderung. Deswegen wurde das 30×30-Ziel im Dezember 2022 auf der Montreal-Konferenz festgelegt – bis Ende des Jahrzehnts sollen 30% der Erde unter Schutz gestellt werden. Aber der Schutz muss effektiv sein, nicht nur auf dem Papier. Wenn wir die Landnutzung ändern, besonders bei der Entwaldung, können wir eine Menge erreichen. Dagegen liefern die abstrakten Zahlen von Aussterberaten keine praktischen Lösungswege, während wir mit auf den Flächenschutz fokussierten Maßnahmen gezielt viel bewegen können.

Wie geht Deutschland mit seinen Naturschutzgebieten um?
In Deutschland werden viele Schutzgebiete nicht ausreichend überwacht. Schutzgebiete sind ohne eine ordentliche Verwaltung oder ein Monitoring. Deutschland hat 30% der Fläche geschützt, aber in vielen Fällen fehlt es an den nötigen Daten und einer tatsächlichen Umsetzung. Die EU hat das Renaturierungsziel von 30% auf 20% heruntergesetzt, was immerhin besser ist als nichts. Wenn wir diese 20% wirklich ernsthaft renaturieren, haben wir schon viel erreicht, aber der Weg dahin ist noch lang.
Kommen wir noch einmal auf den globalen Süden zu sprechen. Wie sieht es dort aus?
Biodiversität ist vor allem im globalen Süden gefährdet. Die Länder dort sind viel ärmer, aber sie leisten oft deutlich mehr für den Naturschutz, als wir hier im industrialisierten Westen. Diese Länder benötigen unsere Unterstützung, nicht nur durch Geld, sondern durch nachhaltige, faire Handelspraktiken, um ihre Biodiversität zu erhalten.
Jetzt reden wir noch einmal über die Qualität der Schutzgebiete. Der bekannte Förster Peter Wohlleben, mit dem ich ein Interview geführt habe, erklärte mir kürzlich, dass es nicht nur darauf ankomme, genügend Flächen der Natur zu überlassen, sondern dass diese Gebiete nicht verinselt oder zerschnitten sein dürften. Er plädiert sogar dafür, Waldwege abzuschaffen, weil er meint, dass es keine Forstwirtschaft braucht, wenn keine Bewirtschaftung stattfindet. Wie müssten solche Naturschutzzonen, insbesondere in Europa und Deutschland, idealerweise aussehen?
Das ist eine zentrale Frage. Insbesondere die Inselbiogeografie zeigt uns, dass kleinere Flächen – regelrechte „Inseln“ – besonders anfällig sind, weil sie eine größere Randlinie haben, also Grenzlinien mit dem Kontakt nach außen. Kleinere Schutzgebiete sind dadurch oft ineffektiv, vor allem wenn sie nicht miteinander verbunden sind. Man diskutiert derzeit Konzepte wie Sparing – das exklusive Freihalten von Gebieten für die Natur – und Sharing, bei dem etwa landwirtschaftliche Flächen so genutzt werden, dass auch naturnahe Bereiche erhalten bleiben. Letztlich führt aber nur eine flexible und an die jeweiligen Gegebenheiten angepasste Strategie zu einem stabileren Ergebnis. Es geht nicht nur um viele kleine Inseln, sondern auch um größere, zusammenhängende Flächen. In Indien etwa überleben Tiger nur, weil ihre Rückzugsgebiete durch Korridore verbunden sind. Wenn allzu viele dieser Gebiete verinselt sind, können sie ihre Funktion nicht erfüllen.
Wie beeinflusst die Windkraft den Schutz von Naturschutzgebieten?
Ein unrühmliches Beispiel ist derzeit der Reinhardswald in Hessen, wo der Bau von Windkraftanlagen die letzten zusammenhängenden Wälder zerstört. Zwar ist der reine Flächenanteil der einzelnen WKA gering, aber zum Bau zerschneiden die Schwerlasttransporte den Wald und machen einen Schutz praktisch bedeutungslos. Windkraft sollte nicht in Gebieten gebaut werden, die als Naturschutzflächen ausgewiesen sind, wenn dies die natürlichen Strukturen zerstört. Der Fokus muss darauf liegen, Naturschutzgebiete groß genug zu halten und die Flächen zu bewahren.

Peter Wohlleben hat absolut recht. Schutzgebiete müssen vernetzt und großflächig sein. Die Größe, Nutzung und Verbindung der Schutzgebiete sind entscheidend für den Erhalt der Biodiversität. Für viele Arten, darunter etwa Wildkatzen oder Luchse, müssen Korridore geschaffen werden, die es den Tieren ermöglichen, sich wieder auszubreiten und Populationen zu stabilisieren.
Was bedeutet das alles für die Forst- und Landwirtschaft? Wie muss sie zukünftig unter dem Aspekt des Schutzes der Biodiversität gestaltet werden?
Heute wird auch in Naturschutzgebieten noch Forst- und Landwirtschaft betrieben. Wir brauchen mehr Regionen, in denen diese Aktivitäten ausgesetzt werden, um echten Naturschutz zu ermöglichen. Aber das allein reicht nicht aus. Wir müssen die Forstwirtschaft und Landwirtschaft grundlegend reformieren, mit weniger Giften und Dünger und Maschinen, die den Boden verdichten. Wenn wir das umsetzen, können wir eine ökologisch verträgliche Landwirtschaft und Forstwirtschaft etablieren.
Wir dürfen den technologischen Fortschritt nicht ablehnen, wie GPS-gesteuerte Bewässerung und Düngung. Gentechnik ist nicht per se schlecht – es geht darum, sie sinnvoll einzusetzen. Wenn wir uns ideologisch gegen solche Technologien stellen, entziehen wir uns einer wichtigen Möglichkeit, den steigenden Nahrungsbedarf der Weltbevölkerung zu decken. Wir müssen den Menschen klarmachen, dass auch konventionell gezüchtete Pflanzen genetisch verändert sind.
Wie sieht es mit der Massentierhaltung und dem Konsum von Fleisch aus?
Massentierhaltung ist ein Problem, das wir hinterfragen müssen. Ich esse Fleisch, aber ich bin bereit, einen hohen Preis dafür zu zahlen, wenn es unter ethischen und ökologischen Gesichtspunkten produziert wurde. Fleisch sollte ein Luxusprodukt bleiben, das nur in Maßen konsumiert wird. Wir sollten den Konsum reduzieren und uns auf nachhaltigere Produktionsweisen konzentrieren.
Und was bedeutet das für die Forstwirtschaft in Deutschland?
In Deutschland gehört ein Teil der Forste im Besitz der Bundesländer. Wir müssen uns fragen, ob es nur darum geht, die Kassen zu füllen, indem wir Wälder als Holzquelle betrachten, oder ob wir diese Wälder als wertvolle Ökosysteme erhalten wollen. Es ist wichtig, dass wir die Wälder nicht nur als wirtschaftliche Ressource sehen, sondern auch als unersetzliche ökologische Ressourcen. Diskussionen wie die von Peter Wohlleben sind notwendig, um eine zukunftsfähige Forstwirtschaft zu entwickeln.
Ich habe vor zwei, drei Jahren in der Welt einen einspaltigen Beitrag gelesen, dass die Böden in Brandenburg noch für 20 Ernten die Power haben. Ist das auch „schon“ ein Zeichen der Biodiversitätskrise, oder ist das „noch“ viel zu viel Gifteinsatz?
Das ist ein klares Zeichen der Biodiversitätskrise. Wir fokussieren uns oft auf Vögel oder Säugetiere, aber die Organismen im Boden – in Waldböden, Moorböden oder Meeresböden – sind entscheidend. Diese Organismen werden viel zu wenig beachtet, obwohl sie eine Schlüsselrolle im Ökosystem spielen. Die landwirtschaftliche Nutzung, die mit Giften und übermäßiger Düngung einhergeht, hat dramatische Folgen für die Biodiversität. Wenn wir weiterhin unsere Böden und Gewässer vergiften, verlieren wir die Grundlage vieler Lebensräume.
Wir müssen aufhören, Gifte in der Landwirtschaft und auch in privaten Gärten auszubringen. Pestizide und Ackergifte sind oft tödlich für Insekten und andere Organismen. Diese chemischen Stoffe dürfen nicht einfach so in die Umwelt gelangen. Wir müssen diese Probleme an der Wurzel packen und die Gifte aus der Landwirtschaft verbannen, um die Biodiversität zu schützen.
Nun erleben wir gerade ein Stakkato an Multikrisen. In den USA haben wir eine Regierung, die Wissenschaft nicht mehr ernst nimmt, Social Media entdeckt neue Wahrheiten, und die geopolitischen Aufgaben verschlingen nicht nur unsere Aufmerksamkeit, sondern auch Unsummen an Geld, die für die Klimaanpassung und die Abwendung der Biodiversitätskrise dringend benötigt würden. Sie schreiben, dass wir diese Krise, die die gesamte Biosphäre unseres Planeten bedroht, nicht verdrängen dürfen, aber das ist noch nicht im Bewusstsein der Menschen in Politik und Gesellschaft angekommen. Was sind die Gründe dafür?
Die Krisen, die uns momentan überfluten, haben natürlich dazu geführt, dass andere Probleme in den Hintergrund geraten. Wir erleben derzeit nicht nur die Klimakrise, sondern erlebten auch eine Pandemie, die in ihrer Bedeutung den Fokus verschiebt. Doch diese Krisen sind miteinander verknüpft – Zoonosen etwa sind direkt aus der Biodiversitätskrise entstanden. Aber die wahre Tragödie ist, dass diese Krisen uns nicht nur überfordern, sondern dass wir die Biodiversitätskrise nicht ernst genug nehmen. Die Biodiversität ist seit langem bedroht, aber wir haben sie erst jetzt als solche erkannt.
Ein weiteres Problem ist, dass viele Menschen wenig mit der Natur in Kontakt sind, besonders in urbanen Gebieten, in denen der Großteil der Weltbevölkerung leben wird. Dieser Verlust der Verbindung zur Natur sorgt dafür, dass wir die Tragweite der Krise nicht begreifen. Zudem gibt es ein wirtschaftlich falsches Verständnis, bei dem Natur oft als etwas angesehen wird, das uns nichts kostet. Diese Denkweise muss dringend hinterfragt werden.
Wir Biologen beschäftigen uns intensiv mit der Biodiversität, während Klimaforscher sich auf das Klima fokussieren. Aber es gibt keine Hierarchie der Krisen. Wir müssen sie alle parallel behandeln. Das Fatale ist, dass diese Krise weiterhin ignoriert wird, während wir gleichzeitig mit geopolitischen und anderen Krisen konfrontiert sind. Die Biodiversitätskrise betrifft uns alle und wird die nachfolgenden Generationen genauso herausfordern.
Also, die Menschen haben noch nicht richtig verstanden, dass die Vielfalt aller Lebewesen auf der Erde ihre Lebensversicherung ist?
Ganz genau. Der Fokus auf Profit und Wohlstand hat dazu geführt, dass viele Menschen die Natur als etwas betrachten, das selbstverständlich da ist. Das gefährliche Missverständnis ist, dass wir die Natur ausbeuten können, ohne die Folgen zu spüren.
Die Rolle der Zivilgesellschaft wird zunehmend entscheidender. Aktivisten, NGOs und auch bildungsorientierte Bewegungen müssen dazu beitragen, ein neues Bewusstsein für Biodiversität zu schaffen. Bildungseinrichtungen müssen verstärkt ökologische und wissenschaftliche Bildung integrieren, um den zukünftigen Entscheidungsträgern die Relevanz der Biodiversitätskrise aufzuzeigen. Was müssten jetzt idealerweise die Wissenschaftlerinnen, die Journalistinnen, die Naturschützerinnen und die Politikerinnen insbesondere kommunikativ tun, damit nicht nur dem Klimawandel die größere Aufmerksamkeit zuteilwird?
Die Verantwortung liegt bei denen, die das Problem verstehen, sich zu artikulieren und die Dringlichkeit der Biodiversitätskrise hervorzuheben. Klimaforscher wie Johann Rockström machen bereits darauf aufmerksam, dass der einseitige Fokus auf das Klima gefährlich ist, weil er viele andere Umweltkrisen ignoriert.

Letztlich spielen drei Akteure eine Rolle: Der Einzelne, die Politik und die Unternehmen. Der Einzelne kann durch Konsumverhalten viel tun, die Politik muss klare Regeln setzen, und Unternehmen tragen die Verantwortung, nachhaltiger zu wirtschaften.
Der Fokus muss auf lokalem Naturschutz liegen. Während der Klimawandel global ist, sind viele Arten lokal oder regional begrenzt. Wir müssen uns darüber klar werden, dass wir, unabhängig von geopolitischen Entscheidungen, in unserem direkten Umfeld aktiv werden können. Jeder Garten, jeder Park, jeder Stadtteil kann zur Erhaltung der Biodiversität beitragen.
Aber auch internationale Kooperationen wie der New Deal for Nature sind von enormer Bedeutung. Staaten müssten im Einklang mit Klimaschutzmaßnahmen auch ambitionierte Ziele zum Schutz der Biodiversität festlegen. Es reicht nicht, nationale Grenzen zu betrachten; wir brauchen globale Anstrengungen, die aufeinander abgestimmt sind. Wie können wir das konkret umsetzen?
Es geht konkret darum, die Arten vor der eigenen Haustür zu schützen. Der Kammmolch etwa, oder Schmetterlinge und viele andere Arten, die direkt bei uns leben, müssen geschützt werden. Es sind die kleinen, lokalen Maßnahmen, die das große Bild ausmachen. Wenn jeder von uns aufhört, die letzten alten Bäume zu fällen und stattdessen deren ökologischen Wert anerkennt, dann können wir viel erreichen. Die Natur ist nicht unbegrenzt. Die kurzfristigen wirtschaftlichen Überlegungen, wie etwa die Zerschneidung und Zerstörung von Naturschutzgebieten, sind langfristig immer falsch. Wir müssen eine Abwägung treffen, bei der wir die Natur langfristig schützen, statt sie weiterhin auszubeuten.
Jetzt als Resümee: Was sind also die drei konkret wichtigsten Schritte zur Sicherung der Biodiversität?
Die drei wichtigsten Schritte sind:
- Flächenschutz: Der Verlust von Lebensräumen ist der Haupttreiber für den Verlust von Arten. Wir müssen der Natur wieder mehr Fläche überlassen – und zwar nicht exklusiv, sondern auf eine Weise, die eine nachhaltige Nutzung ermöglicht. Diese Nutzung muss vernünftig sein und darf nicht ausbeuterisch wie bisher sein.
- Renaturierung: Wir müssen viel mehr Flächen renaturieren, um das Gleichgewicht der Natur wiederherzustellen. Das ist eine der wichtigsten Maßnahmen, um die Biodiversität zu sichern und die natürlichen Lebensräume zu stabilisieren.
- Investition in die Biodiversitätsforschung: Wir brauchen mehr Geld für die Biodiversitätsforschung, um zu verstehen, was genau passiert und was getan werden muss. Nur durch eine fundierte wissenschaftliche Basis können wir gezielte Maßnahmen ergreifen. Wir müssen das Geld, das derzeit in weniger dringliche Projekte wie Weltraumabenteuer fließt, in die Biodiversitätsforschung umverteilen.
Zusätzlich ist es entscheidend, das Bewusstsein der Bevölkerung zu schärfen, warum der Schutz der Biodiversität so wichtig ist. Und genau das ist auch der Zweck unseres Gesprächs: Um dieses Wissen weiterzugeben und ein breiteres Verständnis dafür zu schaffen, warum wir alle Verantwortung übernehmen müssen. Vielen Dank, dass Sie sich die Mühe machen, dieses Thema weiterzutragen.

Neues Buch von Professor Matthias Glaubrecht
Professor Matthias Glaubrecht befasst sich in seiner neuen Streitschrift mit einer der größten Herausforderungen unserer Zeit – dem massiven Verlust der biologischen Vielfalt. In Das stille Sterben der Natur. Wie wir die Artenvielfalt und uns selbst retten (erscheint am 16. April 2025 bei C. Bertelsmann) beschreibt er die Ursachen für das weitgehende Desinteresse und den Mangel an ernsthaften Maßnahmen zum Schutz der Biodiversität. Glaubrecht beleuchtet, warum der Verlust von Arten noch immer zu wenig beachtet wird und welche Fehler im klassischen Naturschutz gemacht wurden.
Er liefert konkrete Handlungsansätze, wie wir die Artenvielfalt retten können – und fordert, dass der Schutz der Natur ebenso dringend und ernsthaft verfolgt wird wie der Kampf gegen den Klimawandel. Glaubrecht zeigt, dass es nicht nur darum geht, einzelne Arten zu schützen, sondern das gesamte System der Natur zu erhalten, das unsere Lebensgrundlage sichert.