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Vorbildfunktion? Nein.

Der menschengemachte Klimawandel ist keine Bedrohung für die ferne Zukunft ferner Länder, der Klimawandel findet statt – hier und jetzt. Doch welche konkreten Auswirkungen wird er auf unser aller Leben in Deutschland haben? Selbst wenn es Deutschland und der Welt gelingen sollte, den Ausstoß von Treibhausgasen in den nächsten Jahrzehnten drastisch zu reduzieren – bereits jetzt steht fest: Das Klima in Deutschland verändert sich. Im Jahr 2050 wird es bei uns im Durchschnitt mindestens zwei Grad Celsius wärmer sein. Wir fragten Nick Reimer, was die praktischen Konsequenzen dieses Temperaturanstiegs sind.

Herr Reimer, Sie beschreiben in Ihrem Buch Deutschland 2050 gemeinsam mit Toralf Staud, wie unser Klima 2050 in Deutschland sein und sich unser Leben verändern wird. Woher nehmen Sie Ihre Kenntnisse?

Die Erforschung des Klimawandels ist vermutlich das Beste, was die Menschheit an Wissenschaft hinbekommen hat. Hunderttausende Forscher*innen auf der ganzen Welt kümmern sich um dieses Thema. Es gibt den Weltklimarat, IPCC, der alle fünf bis sechs Jahre die Forschung sichtet und die Forschungsergebnisse zusammenfasst und bewertet. Im August ist der erste Teil des sechsten Sachstandsberichts herausgekommen.

Illustration: Sophia Stephanie

Toralf und ich sind Journalisten und haben uns die relevanten Ergebnisse angeguckt. Zum Beispiel waren wir beim Deutschen Wetterdienst in Offenbach. Dort steht im Erdgeschoss der Rechner, mit dem das Wetter berechnet wird. Wenn Sie sich ansehen, wie präzise die Wettervorhersagen inzwischen geworden sind, dann ist das beeindruckend: Zu mehr als neunzig Prozent wird das Wetter tatsächlich so, wie prognostiziert. Die Klimavorhersage wird nach demselben Prinzip wie die Wettervorhersage berechnet. Hierzu teilt man die Welt in Quader auf – Kantenlänge 2,8 Kilometer. Wenn nun über den Azoren eine bestimmte Luftmasse mit einer bestimmten Temperatur und einem bestimmten Luftdruck beginnt weiterzuziehen, wird berechnet, was mit dieser Luft zum Beispiel in den Alpen passiert. Wenn sie sich mit Wasserdampf vollsaugt, bedeutet das für unser Wetter zwei Tage später wahrscheinlich Regen.

Genauso kann man das nicht nur für das Wetter von übermorgen, sondern auch für das Klima in zwanzig, vierzig oder einhundert Jahren berechnen, nur dass bei der Klimaberechnung ein paar mehr Unbekannte mit einberechnet werden. Wir wissen heute noch nicht, wie sich bestimmte Zustände verändern oder Gegebenheiten entwickeln. Die Bevölkerungsentwicklung ist so eine Sache. Wie entwickeln sich die Wälder?

Nick Reimer, 55, ist ein Journalist und Buchautor in Berlin. Er studierte Energieverfahrenstechnik, volontierte bei der Berliner Zeitung und war 2000 bis 2011 Wirtschaftsredakteur bei der taz. Seitdem schreibt er u. a. für Zeit online über Klima- und Umweltthemen. Für den Blog Klima-Lügendetektor.de erhielt er 2012 den Otto-
Brenner-Preis

Die wichtigste Unbekannte ist die Fragestellung: Wie entwickelt sich die Treibhausgaskonzentration? Die erste Klimakonferenz war 1995: „Wir haben ein Problem! Wir müssen die CO2-Emissionen senken!“ Seitdem ist Jahr für Jahr die Treibhausgaskonzentration gestiegen. Wir stoßen heute 45 Prozent mehr Treibhausgasemissionen aus als zu Beginn dieses Prozesses. 

Jetzt müssen die Klimamodellierer*innen Annahmen treffen. Die erste Annahme ist, dass es so weitergeht wie bisher. Die Treibhausgasemissionen steigen und steigen. Die zweite Variante ist, wir beginnen ein wenig Klimaschutz zu betreiben. Die Emissionen steigen nicht mehr stark an. Dritte Variante: Wir betreiben starken Klimaschutz. Das bedeutet, die Treibhausgas-Produktion nimmt leicht ab. Vierte Variante: radikaler Klimaschutz! Zum Beispiel Kohlekraftwerke sofort oder so schnell es geht abschalten, nicht erst 2038.

Die Klimamodellierung hat berechnet, wie das Wetter und das Klima in Deutschland im Jahre 2050 sein wird. Das ist aus heutiger Sicht schon sehr transparent und genau. Nämlich: Deutschlandweit wird es zwei Grad wärmer als zur vorindustriellen Zeit.

Das sind Tatsachen, die wir uns nicht ausgedacht haben. Wir haben lediglich die Forschungsergebnisse übersetzt, um sie praktisch erfahrbar zu machen. Wenn man sich heute eine Dachgeschosswohnung kauft und sie dreißig Jahre lang abzahlt, dann gehört einem 2050 die Immobilie. Wenn man 2050 diese Dachgeschosswohnung verkaufen wollen würde, dann wäre sie nur noch halb so viel wert. Einfach, weil es so unerträglich heiß sein wird, dass man selbst bei besten Dämmmaterialien keine Freude an der Wohnung hätte. Das Souterrain wird die Belle Etage der Zukunft sein. Daran erkennt man, wie nah uns das Jahr 2050 heute schon ist, und gleichzeitig, wie radikal sich die Dinge verändern werden.

Sie haben ganz bewusst den Zeitraum von dreißig Jahren gewählt, weil man rückblickend auf das Jahr 1990, das Jahr der Wiedervereinigung Deutschlands, ein Gespür davon bekommt, was dieser Zeitraum bedeutet. Und dennoch sind für viele die skizzierten Schreckensszenarien, die man allenthalben lesen kann, nicht eindrücklich genug. Was sagen Sie denen, die zwei Grad mehr nicht besonders ernst nehmen?

Die Antwort ist vielschichtig. Lassen Sie uns einmal mit der Physik beginnen: Wenn Luft wärmer ist, kann sie mehr Wasser aufnehmen. Eine um ein Grad wärmere Luftzelle, kann sieben Prozent mehr Wasser speichern. Nun ist Wasser geballte Energie. Eine um zwei Grad wärmere Luft kann schon vierzehn Prozent mehr Wasser speichern. Wenn Sie sich die Starkregenereignisse in diesem Jahr angucken, dann bekommen Sie ein Gefühl dafür, was das bedeutet. Dieser schöne Landregen, den wir kennen und den der Bauer liebt, wo es einen halben Tag lang ein bisschen plätschert, wird künftig der absolute Ausnahmefall. Zukünftig wird es so sein, dass die Wassermenge, die vorher über einen halben Tag verteilt herunterkam, innerhalb von wenigen Minuten zu Boden fällt. Das heißt, wärmere Luft sorgt dafür, dass sich die Extreme häufen. Sowohl die Dürreextreme als auch die Starkregenereignisse werden zunehmen.

Warum eigentlich die Debatte um das Zwei-Grad-Ziel? Das liegt an den sogenannten Kipppunkten des Klimawandels. Einer dieser Kipppunkte ist das Tauen der Permafrostböden in weiten Teilen Sibiriens, Alaskas und Kanadas. Permafrostböden sind dauergefrorene Böden, in denen Treibhausgase festgefroren sind. Von der Menge her doppelt so viel Treibhausgase, als momentan in der Atmosphäre sind. Die Wissenschaft hat herausgefunden, dass, wenn die globale Temperatur im Mittel um zwei Grad wärmer wird, diese Böden dann so stark auftauen, dass so viele dieser Treibhausgase freiwerden, dass sich der Erwärmungsprozess verselbstständigt. Es wäre dann völlig nebensächlich, wenn wir Kohlekraftwerke abschalten, das Fliegen verbieten oder auf Fleisch verzichten würden – das alles wäre dann völlig egal. Tauende Permafrostböden sorgen dafür, dass sich das Klima immer mehr aufheizt, wir immer mehr Treibhausgase in der Atmosphäre bekommen, und dieser Prozess ist nicht mehr aufzuhalten. In der Klimadiplomatie der letzten Jahre und Jahrzehnte waren diese zwei Grad die Marke, die nicht überschritten werden durften. Lieber noch unter dieser Marke, Nähe bei eins Komma fünf.

Wir sind uns ja alle ziemlich einig, dass es sehr zäh wird, nicht einmal die Gesellschaft davon zu überzeugen, sondern eher die Politik dazu zu bewegen, was zu verändern. Wenn wir also davon ausgehen müssen, dass wir bei zwei, vielleicht zwei Komma fünf oder drei Grad mehr landen und diese Kipppunkte erreicht und überschritten werden, müssen wir dann nicht darauf drängen, wesentlich schneller und drastischer zu handeln?

Unter anderem deswegen haben wir dieses Buch geschrieben. Wir wollten Klimawandel einmal für alle runterdeklinieren. Beim Klimathema denken immer noch viele an Eisbären oder an Bangladesch. „Mit uns hat das nicht viel zu tun. Was geht uns das an?“ Es gibt eine amerikanische Untersuchung, die Fragen gestellt hat, wie: „Was heißt denn Klimawandel für die USA?“ Siebzig Prozent der Befragten nahmen an, dass die USA von den Entwicklungen betroffen sein werden. „Was bedeutet der Klimawandel für die Nachbarstadt?“ Fünfzig Prozent konnten sich auch hier Auswirkungen für die Nachbarn vorstellen. „Was bedeutet das für Sie persönlich?“ Lediglich ein Drittel meinte, dass es persönlich betroffen sein würde.

Toralf und ich haben 2007 ein Buch geschrieben: Wir Klimaretter – so ist die Wende noch zu schaffen. Wir waren damals überzeugt davon, dass dieses Buch ein Renner wird. Es lag bleischwer im Regal, weil es die Leute nicht interessiert hat.

Mit dem neuen Buch wollten wir klarmachen, dass das Thema wirklich jede*n angeht, dass wirklich jede*r den Klimawandel spüren wird. Wir haben es so formuliert: „Wer möchte, dass wir unser schönes Leben weiterleben, der muss jetzt endlich aufwachen und in Klimaschutz investieren.“

Politik hat die Aufgabe, Vorsorge zu betreiben. Wenn es eine längerfristige Finanzplanung gibt, müsste es auch eine längerfristige Klimaschutzplanung geben. Deutschland hat im November 1990 zum ersten Mal ein Klimaziel beschlossen. Demnach sollten die alten Bundesländer bis zum Jahr 2005 gegeüber dem Basisjahr 1987 25 bis 30 Prozent ihrer Treibhausgase reduzieren. Reduziert haben sie dann tatsächlich vier Prozent. Es gab keinen Aufschrei, es gab niemanden, der sich dafür interessiert hat, es war einfach kein Thema.

Wir müssen jetzt eine gesellschaftliche Stimmung erzeugen, die die Politiker*innen vor sich hertreibt. Glücklicherweise hilft dabei das Engagement durch Fridays for Future. 

Es ist unsinnig, über 15 oder 16 Cent Preiserhöhung beim Spritpreis zu reden, wir müssen im Gegenteil das Autofahren so teuer machen, dass die Alternativen interessanter werden. Solange Autofahren günstiger ist als Bahnfahren, wird sich nicht viel verändern.

Vielen ist sicherlich nicht bewusst, dass sich, selbst wenn wir jetzt sofort sehr vieles in die Wege leiten würden, an der Situation nicht viel verändern würde. Wenn das in den Köpfen wäre, würde die Motivation, etwas zu tun, sicherlich noch weiter sinken. Was aber – und ich weiß, ich wiederhole mich da – kann konkret getan werden, um einen Sinneswandel zu bewirken und den Klimawandel zu bremsen?

Wir haben in unserem Buch ein Kapitel zur Natur. Dort lesen wir, dass es in Brandenburg in dreißig Jahren keinen Wald mehr gibt. Die Buche braucht 450 Liter Niederschlag im Jahr, um zu überleben. In dreißig Jahren fallen aber nur knapp 400 Liter Regen im Jahr. Die schönen alten Buchenwälder wird es dann nicht mehr geben. Das heißt, ich bin persönlich betroffen, mir wird ein Stück von meinem Lieblingsort geraubt. 

Man sieht das heute schon. Ich war am Wochenende in der Sächsischen Schweiz. Es ist verheerend. Die Fichte ist tot. Bestimmte Gegenden dürfen nicht mehr betreten werden, weil die Bäume umzustürzen drohen. Es ist schon jetzt eine komplett andere Landschaft, als vor fünf Jahren. Die Leute merken das! Da passiert grad irgendwas. 

Unser Buch ist jetzt seit drei Monaten auf dem Markt und seit dem Erscheinen auf der Bestsellerliste. Die sechste Auflage ist bereits im Druck. Ich glaube, die Leute interessieren sich mittlerweile dafür. Es gibt im Moment eine Reihe von Klimabüchern – von Eckart von Hirschhausen, von Frank Schätzing oder von Maja Göpel –, dass man annehmen kann, dass sich auch publizistisch gerade eine Menge tut. Die taz macht jeden Montag eine Klimaseite. Da ist für mein Gefühl etwas im Schwange. 

Wenn Sie mich aber fragen, was wir konkret für einen wirkungsvollen Sinneswandel bräuchten, dann habe ich keine plausible Antwort.

Natürlich ist es frustrierend, wenn man sieht, wie langsam der Aufklärungs- und Umsetzungsprozess geht. Auf der anderen Seite hat gerade heute Extinction Rebellion den Düsseldorfer Landtag besetzt und getitelt: „Klimawandel bekämpfen, nicht den Protest!“ Das erzeugt starke Bilder, das wird einige Leute zum Nachdenken bringen. Wenn eine solche Bewegung da ist, sich verstätigt und auch stärker wird, dann kriegen wir es über kurz oder lang hin, dass im Kollektiv klar wird, wie knapp wir vor der Katastrophe stehen.

Können Sie hierzu ein Beispiel benennen?

Der Grönländische Eisschild ist bis zu 3.300 Metern hoch und beginnt von oben nach unten in die immer wärmer werdenden Schichten zu tauen. Dieser Vorgang beschleunigt sich immer stärker und ist nicht mehr aufzuhalten. Wenn der Eisschild abtaut, steigt der Meeresspiegel um sieben Meter. Emden liegt einen Meter über dem Meeresspiegel. Vielleicht ist Hamburg noch zu retten, wenn man ein Sperrwerk gegen die sieben Meter baut. Aber der Grönländische Eisschild ist nicht der einzige, der taut. Wenn alle Eisschilde tauen, die es auf der Erde gibt, dann steigt der Meeresspiegel um mehr als fünfzig Meter. Berlin versinkt dann im Meer, Düsseldorf ist weg, Magdeburg eine Küstenstadt und in Köln können Sie mit dem Fahrrad ans Meer fahren.

Das sind Entwicklungen, die wir heute in Gang setzen. Wir entscheiden heute über Veränderungen, die kommende Generationen viele Hundert Jahre ausbügeln müssen. Und diese Generationen werden auf uns in etwa so zurück blicken, wie wir heute auf Hitler, unsere Großeltern und den Zweiten Weltkrieg: Wie konnte es bloß dazu kommen? 

Deshalb ist der von der Politik beschlossene „Kohleausstieg“ im Jahr 2038 billiger Populismus. Wir können uns nicht leisten, Kohlekraftwerke so lange laufen zu lassen. Und warum sollten wir auch? Wir haben die Alternativen: Windenergie, Solarenergie, Biomasse. Wir wissen doch, wie es geht.

Leseempfehlung:
Nick Reimer und Toralf Staud
Deutschland 2050
Wie der Klimawandel unser Leben 
verändern wird
Erschien 2021 im KiWi-Paperback,
384 Seiten, 18,– Euro
ISBN 978-3462000689

Ihr Buch Deutschland 2050 richtet sich in der Hauptsache an ein deutsches Publikum. Das Wahlvolk hat es im September in der Hand, die richtigen Weichen zu stellen. Aber wie sieht die internationale Entwicklung aus? 

Verglichen mit weiten Teilen der Welt werden die Zustände in Mitteleuropa noch beherrschbar sein. Mitte des Jahrhunderts wird eine Milliarde Menschen bei Tagestemperaturen von mehr als vierzig Grad leben müssen. Der menschliche Körper ist eine Wärmemaschine, selbst wenn wir nur denken, produzieren wir Wärme. Wenn die Umgebungstemperatur über unserer Körpertemperatur von 37 Grad liegt, können wir keine Wärme mehr abgeben. Wir bekommen Kreislaufprobleme und unsere Organe müssen Schwerstarbeit leisten. Es kann zu Organversagen kommen – der Hitzetod ist besonders grausam. Siebenundzwanzig Möglichkeiten, wie eine Hitzewelle Sie töten kann – so lautet die Überschrift einer amerikanischen Studie von Camilo Mora und Kollegen.Wir haben heute schon auf der ganzen Welt unfassbare Hotspots, bei denen der Klimawandel ein wesentlich größeres Thema ist als bei uns. 

Zum Beispiel?

Lima liegt in der Wüste. Knapp zehn Millionen Menschen leben in einem Gebiet, in dem es elf Millimeter Niederschlag pro Jahr gibt. Das ist weniger Niederschlag als in der Sahara. Diese Menschen werden durch drei Flüsschen mit Trinkwasser versorgt, die aus den Andengletschern gespeist werden. Diese Gletscher aber sind in fünf, spätestens in zehn Jahren abgeschmolzen. Und jetzt sagt Lima: „Moment mal, Deutschland! Ihr habt dieses Problem verursacht, und wir sind die Leidtragenden. Wenn wir alle Menschen umsiedeln müssten, weil es kein Trinkwasser mehr gibt, oder wenn wir eine Meerwasserentsalzungsanlage bauen müssten, dann fordern wir euch auf, dafür zu bezahlen.“

Es gibt bislang ein Schuldeingeständnis der Industriestaaten: Versprochen wurde die Zahlung von einhundert Milliarden Dollar pro Jahr – das ist bislang allerdings nur ein Lippenbekenntnis. Dieses Geld fließt noch nicht. Es gibt nur ein paar Projekte, anhand derer man den Prozess durchgespielt hat. Aber es funktioniert praktisch noch nicht richtig.

Am Oberlandesgericht Hamm ist gerade eine Klage anhängig. Ein Bauer aus den Anden hat RWE verklagt. Und zwar ist das Problem dort, dass die schmelzenden Gletscher einen See erzeugt haben, der droht, ein Dorf zu überspülen. Deshalb haben die Anwohner begonnen, diesen Gletschersee abzupumpen. Nun soll sich RWE mit 1,5 Prozent an den Kosten dafür beteiligen.

Warum mit eins Komma fünf Prozent?

Weil RWE für eins Komma fünf Prozent der weltweiten Emissionen von Treibhausgasen verantwortlich ist. Derzeit läuft die Beweisaufnahme. Wenn RWE für schuldig befunden wird, dann wird der Konzern vielleicht ein paar Tausend Euro bezahlen müssen. Aber es wird vermutlich das Ende des Konzerns sein, weil ab sofort jeder, dessen Existenz vom Klimawandel bedroht wird, RWE auf Schadensersatz verklagen kann. Das macht deutlich, wie stark wir für das Problem verantwortlich sind. Die Deutschen sind ein Prozent der Weltbevölkerung, machen aber zwei Prozent der Treibhausgasemissionen aus. Wenn alle so leben würden wie wir, wären die Kipppunkte längst erreicht worden.

Das Zweite ist: Warum sollte China aus der Kohle aussteigen, wenn wir das nicht machen? Warum soll in Chile nicht ein neues Kohlekraftwerk gebaut werden, wenn bei uns im letzten Jahr eines in Datteln ans Netz geht? Warum sollen Staaten, die zu diesem Problem nichts beigetragen haben, beginnen, Klimaschutz zu betreiben? Wir müssen unseren klimaschädigenden Lebensstil überprüfen und vorangehen und müssen nachweisen, dass Energie- und Agrarwende funktionieren.

Wir sind also verpflichtet, eine Vorbildfunktion zu übernehmen?

Was heißt Vorbildfunktion? Wir müssen unsere Schulden abtragen! Wir haben uns an dieser Welt versündigt. Der westliche Lebensstil fußt auf dem Verfeuern von Kohle, Öl und Gas. Das ist doch der Ausgangspunkt des Problems. Unser Reichtum basiert auf dem Verfeuern von fossilen Energieträgern. Wir sollten unseren Reichtum nutzen, um Alternativen aufzuzeigen.

Ein Land wie Indien hat andere Probleme, als sich um den Klimawandel zu kümmern. Indiens Gesellschaft wird allerdings unglaublich hart vom Klimawandel betroffen sein. Das liegt wieder an einem Kipppunkt. Der indische Sommermonsun, der bislang den Wasserkreislauf zur Bewässerung der Felder in Gang hält, der ist in Gefahr. Wenn der ausbleibt – und der bleibt immer häufiger aus –, dann werden die Inder*innen schlimme Dürren und Hungersnöte erleben.

In Deutschland werden die Folgen des Klimawandels Mitte des Jahrhunderts zwar noch beherrschbar sein. Aber genau deshalb werden Flüchtlingsströme kommen, die jene Welle des Jahres 2015 heftigst übersteigen. 

Gibt es Staaten, Institutionen oder Unternehmen, die – vielleicht unbemerkt – an zukunftsweisenden Lösungen arbeiten oder solche entwickelt haben?

Wir betreiben einen Klimalügendetektor, mit dem wir klimafreundliche Aussagen analysieren. Es ist selten so, dass es keinen Grund gibt, Alarm zu schlagen. Wenn die Deutsche Bahn sagt: „Unsere ICEs fahren alle klimaneutral“, dann ist das ein billiger Rechentrick. Die Bahn ist übrigens der größte Stromverbraucher in Deutschland. Die Bahn nutzt ein bisschen mehr Ökostrom als der bundesdeutsche Durchschnitt. Dabei rechnet sie den ICEs ausschließlich die Menge des genutzten Ökostroms zu. Mit anderen Worten fahren die Güterzüge alle mit Kohlestrom. Fürs Klima völliger Unsinn!

Es gibt Vorbilder, natürlich! Es gibt Konzerne, die sich Klimaschutz auf die Fahne geschrieben haben. Die Münchner Rückversicherung beispielsweise hat bereits vor zwanzig Jahren ein Klimafolgenforschungszentrum gebaut, weil sie als Rückversicherer ganz besonders vom Klimawandel betroffen ist. 

Es gibt auch ein paar vorbildliche Staaten. Großbritannien hat bereits seit Jahren ein Klimagesetz, in dem geregelt wird, wie die Regierung zu handeln hat. Es gibt ein paar lateinamerikanische Staaten, die sich vorgenommen haben, bereits 2025 klimaneutral zu sein.

In der internationalen Klimapolitik gibt es dieses blaming and shaming – dieses ‚Ich mach was Gutes, um dich bloßzustellen’. Das funktioniert natürlich teilweise, produziert aber längst nicht den nötigen Druck oder das Tempo, das wir brauchen. 

Wenn bestimmte Entwicklungen feststehen, wir also beispielsweise mit Bestimmtheit heute schon sagen könnten, dass der Meeresspiegel um so und so viele Meter bis 2050 steigen wird – egal, ob wir heute beginnen würden, Klimaschutz zu betreiben –, gibt es dafür verlässliches Kartenmaterial, um sich auf die neuen Küstenlinien vorzubereiten?

Der Meeresspiegel ist ein schlechtes Beispiel, weil er bis 2050 lediglich um ein paar Dutzend Zentimeter steigen wird. Das ist nicht bedrohlich. Aber wir lösen jetzt eine Entwicklung aus, die viele Hundert Jahre weitergeht. Der Meeresspiegel wird bis zum Ende dieses Jahrhunderts um ungefähr einen Meter steigen. Das ist dann schon dramatischer.

Man kann am Anfang der Entwicklung höhere Deiche bauen. Das wird aber auf Dauer nicht funktionieren. Es gibt Think Tanks in den USA, die solche Simulationen entwickelt haben. Da kann man sich die angepassten Küstenlinien anschauen. Und das ist wirklich beängstigend. Der Meeresspiegel wird aber nicht plötzlich um fünfzig Meter steigen – das funktioniert physikalisch nicht.

Aber – noch einmal – wir lösen heute Entwicklungen aus, die wir nicht rückgängig machen können. Es ist heute schon so, dass man in Teilen der Niederlande sein Haus nicht mehr versichern kann. 

Ich habe vor einiger Zeit ein Bauverbot in Rostock gefordert, weil die Stadt auf Dauer nicht zu halten ist. Das hat damals für einige Wellen gesorgt, weil meine Aussage sehr plakativ war und die Menschen treffen sollte.

Was mich insgesamt hoffnungsfroh stimmt, dass es eine Bewegung gibt, die vielleicht noch mit sich ringt, die aber immer stärker wird. Dieses Thema ist in einem vielfältigen Diskurs zu erörtern nach dem Motto: Klimaschutz ist Heimatschutz

Herr Reimer, vielen Dank für dieses Gespräch!

Das Gespräch ist aus Band 3.

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Von Eckard Christiani

Eckard Christiani ist ein Journalist, Kommunikationsberater und Grafikdesigner.