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„Essen ist“, schreibt Ullrich Fichtner schon vor 15 Jahren in seinem Buch Tellergericht,so schön es ist, eine ernste Angelegenheit, es ist ein Test auf den Zustand einer Gesellschaft, auf ihre innere Verfassung.“ Der Spiegel-Journalist ist der Überzeugung, dass Kochen und Essen Schulen des Lebens sind.

Spiegel-Journalist Ullrich Fichtner, lebt und arbeitet in Paris
(Fotografie: Michael Jungblut, fotoetage)

Herr Fichtner, wie kommt man als Spiegel-Journalist auf das Thema Essen? Sie haben sich doch sicherlich mit ganz anderen Themen auseinandersetzen müssen.

Absolut! Ich war zu der Zeit sogar in Krisengebieten unterwegs. Nein, ich bin vor 15 Jahren von der Deutschen Verlags-Anstalt gefragt worden, ob ich mir vorstellen könnte, ein Buch zu schreiben. Was ich überlegt habe, war, mit welchem Thema ich mich wirklich ein halbes oder sogar ein ganzes Jahr beschäftigen möchte. Und das war ziemlich einfach, weil Essen nicht nur eine schöne Sache ist, sondern eine sehr viel größere Bedeutung hat, als unsere Gesellschaft in der Lage ist wahrzunehmen. Deswegen war diese Entscheidung für mich naheliegend. Ich hatte auch, als ich vorher bei der Frankfurter Rundschau war, schon einiges zum Thema Essen geschrieben. Darunter eine Reportage über den Westberliner Fleischmarkt an der Beusselstraße und über die Schweinemast- und Sauenanlage in Losten bei Bad Kleinen – das war zu jener Zeit der größte Betrieb dieser Art in Deutschland. Über 62.000 Schweine mussten damals gekeult werden, weil dort die Schweinepest aufgetreten ist. Das war damals die Zeit der Essensskandale: BSE, Dioxin in Hühnereiern und so weiter.

Das Kochen und Zubereiten von Speisen verschwindet trotz der unzähligen Kochshows im Fernsehen und Kochbucherscheinungen, die es gab und gibt, zunehmend aus dem Fokus. Was geht uns da verloren?

Kochen und Essen gehören zusammen. Eine schockierende Zahl ist, dass nur noch 70 Prozent der Familien in Deutschland einmal in der Woche gemeinsam essen. Alle anderen Mahlzeiten werden irgendwann und irgendwo eingenommen. In Kantinen, in Schulen, am Arbeitsplatz oder im Gehen auf der Straße, was dann besonders charmant ist. Das kann nur zu einem sozialen Defizit führen, weil in alten Zeiten am Tisch, als dieser noch Mittelpunkt des Familienlebens war, viele Dinge besprochen und verhandelt, viele Sachen gelernt wurden. Es wurden dort die Grundwerte des Zusammenlebens – Teilen, Verzichten, auch Gehorchen – geübt. Voraussetzung dafür war natürlich, dass vorher jemand kochte.

Ullrich Fichtner im Gespräch mit Eckard Christiani
(Fotografie: Michael Jungblut, fotoetage)

Kochen ist, und davon bin ich zutiefst überzeugt, eine Schule des Lebens, weil es uns mit unseren Lebensmitteln im Rohzustand bekannt macht. Auch unsere Ekelgrenzen haben sich verschoben, weil wir kaum noch mit rohem Fleisch in Berührung kommen. Es gibt inzwischen viele Menschen, die ganze Fische nicht mehr sehen können. Das sind Entfremdungsprozesse, die meines Erachtens auch dazu führen, dass wir ein grundsätzlich gestörtes Verhältnis zu unserer Umwelt haben.

Es ist schön, so ganz abstrakt das Klima zu schützen, aber wenn ich schon erschrecke, weil ein Frosch vor mir sitzt, dann läuft da etwas schief.

Ich glaube, dass Kochen, wenn man sich das genau überlegt, eine unerschöpfliche Quelle von Allgemeinbildung ist, weil man natürlich mit einer Vielzahl von Produkten in Berührung kommt, etwa Pflanzen wie Kräuter, Gemüse, Salate und so weiter. Der große Garten der Natur. Man lernt, was gesund und was ungesund ist, was gut und was schlecht schmeckt, wovor man sich ekelt und wovor nicht. Das sind alles wichtige Erfahrungen, die die Köchin oder der Koch uns ermöglicht.

Kochen wird heute nur noch als Party-Event inszeniert. In der Werbung sieht man, dass das Kochen mit Freund*innen Spaß macht. Man wirft die Nudeln ins kochende Wasser, und alle sind wahnsinnig gut drauf. Das hat nur mit dem Eigentlichen nichts zu tun. Ich will das Früher nicht verklären. Da gab es auch ganz entsetzliches Essen. Die Mütter waren in der Regel auch keine besonders guten Köchinnen. Aber sie haben Essen gemacht. Ich glaube, der Vorgang des Essenmachens ist eine unglaublich beruhigende Sache. Wenn ich als Kind aufwachse, und ich habe jemanden, der für meine Ernährung die Verantwortung übernimmt, dann ist das ein sehr schönes Gefühl, das mich in meiner Umwelt absichert. Wenn ich hingegen in einem Umfeld aufwachse, wo sozusagen das Klingeln der Mikrowelle wie bei einem pawlowschen Hund Speichelfluss bewirkt, weil ich weiß, dass gleich eine Schale aufgerissen wird und ich essen kann, dann hat dieses Essen weder meine Mutter noch mein Vater zubereitet, sondern es ist von einer anonymen Industrie produziert worden, deren Voraussetzungen, deren Verantwortungsbewusstsein ich nicht kenne. Wir haben ein System entwickelt, in dem wir uns auf Marken verlassen. Damit haben wir die Verantwortung für einen Großteil unseres Essens an eine Industrie delegiert, der wir zwar Regeln geben und die zu kontrollieren wir versuchen, die wir aber letztendlich nicht einschätzen können. 

(Fotografie: Michael Jungblut, fotoetage)

Sie haben vor 15 Jahren in Ihrem Buch Tellergericht geschrieben: „Sind dies, wo es ums Essen geht, nun gute oder schlechte Zeiten?“ Sind die Zeiten besser geworden?

Es wäre sehr schön, wenn die Coronakrise diese paradoxen Effekte hätte, dass sie auch zu Gutem führen könnte. Meine Antwort auf die Frage ist mehrteilig. Es sind natürlich gute Zeiten, weil wir eine wahnsinnig hohe Lebensmittelsicherheit haben. Wir erkanken nicht mehr an Verunreinigungen, wie das noch vor 15 oder 20 Jahren öfter passiert ist. Ich glaube, in Deutschland gibt es immer noch 12.000 Lebensmittelvergiftungen jedes Jahr. Solche Probleme gibt es ja auch! Was das angeht, ist es natürlich trotzdem viel besser geworden. Es ergibt keinen Sinn, die Vergangenheit zu verklären – so nach dem Motto: Früher war alles besser. Das war sicherlich nicht so. 

Das gesamte Gespräch in Band eins wie wir morgen essen und trinken wollen.

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Von Eckard Christiani

Eckard Christiani ist ein Journalist, Kommunikationsberater und Grafikdesigner.

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