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Die Performance des Homo sapiens

Der Klimawandel ist in aller Munde. Er ist aber allenfalls Nebenschauplatz angesichts der apokalyptischen Reiter, die in einem Akt der Verwüstung gegenwärtig über die Erde ziehen: Bevölkerungsexplosion, Ressourcenverknappung, Umweltzerstörung und Artensterben. Einer umfassenden wie beklemmenden Analyse zufolge kommt mit dem sich abzeichnenden größten Artenschwund seit dem Aussterben der Dinosaurier, eine weltweite biologische Tragödie auf uns zu. Wie der Mensch zum entscheidenden Evolutionsfaktor mutieren konnte, fragten wir den Evolutionsbiologen und Autor des Buches Das Ende der Evolution, Prof. Matthias Glaubrecht.

Herr Prof. Glaubrecht, Sie haben ein 1.000-seitiges Mammutwerk vorgelegt: Das Ende der Evolution. Wie lange haben Sie daran gearbeitet?

Im Rückblick staune ich selbst. Man braucht schon ein paar Jahre. Jedoch habe ich zeitgleich – neben meiner Familiengründung – auch noch den Arbeitsschwerpunkt vom Museum für Naturkunde in Berlin nach Hamburg vollzogen und mir selber die gigantische Aufgabe vorgenommen, hier ein Naturkundemuseum mit dem schönen Namen Evolutioneum aufzubauen.

Prof. Matthias Glaubrecht, Fotografie: Sebastian Engels

Die Hansestadt Hamburg hatte über ein halbes Jahrhundert lang als zweitgrößte Stadt nach Berlin ein solches Museum. Aber die Hamburger haben es irgendwie geschafft, diese Tatsache aus ihrer Erinnerung zu verbannen, nachdem das Museum 1943 bombardiert und zerstört worden ist. Das Museum lag bedauerlicherweise direkt neben dem Hauptbahnhof. Die alliierten Bomber haben im Zweiten Weltkrieg natürlich versucht, in der Innenstadt besonders strategisch wichtige Ziele zu treffen. Den Hauptbahnhof haben sie nicht getroffen, dafür aber das daneben liegende Naturkundemuseum. Erfreulicherweise waren die Sammlungen bereits ausgelagert. Das sind historische Schätze – eine Universitätssammlung mit zehn Millionen Exponaten! Das ist ein riesiger Fundus, von dem die Hamburger*innen kaum etwas wussten.

Sie sind Evolutionsbiologe und beschäftigen sich mit einem sehr wichtigen Thema: dem Artensterben. Wenn man dem Titel Ihres Buches Das Ende der Evolution Glauben schenken darf, dann werden Sie demnächst arbeitslos. Ist der Titel Marketingsprech oder eine echte Zustandsbeschreibung der Situation auf unserem Planeten?

Das Ende der Evolution war anfangs ein Arbeitstitel. Als ich ihn damals einem befreundeten Journalisten genannt hatte, war der begeistert. Ich kann den Titel auch einlösen: Er ist natürlich ein wenig pointiert, weil ich als Evolutionsbiologe ganz genau weiß, dass es kein Ende der Evolution gibt. Was nicht gemeint ist, ist, dass der Vorgang der Evolution plötzlich endet, nur weil wir uns auf diesem Planeten rüpelhaft benehmen. Nein, was mir Angst macht, ist die Bedrohung der Menschheit. Das ist tatsächlich kein Kassandraruf. Die Herausforderung ist das Prosperieren der Weltbevölkerung, die demnächst zwei bis drei Milliarden Menschen mehr zählt, für die wir Ernährung sicherstellen müssen und global soziale Gerechtigkeit versuchen müssen herzustellen. Davon sind wir weit entfernt. Ich mache mir Sorgen um das Ende der Evolution, mit der Homo sapiens groß geworden ist. Wir reden nicht nur über Elefanten oder Giraffen, wir reden über die Natur um uns herum – sofern wir das in der Kulturlandschaft unserer Industrienationen überhaupt noch so benennen können. Es gibt sehr gute Satellitenaufnahmen – inzwischen zusammengesetzt für die ganze Erde –, auf denen Sie sehen können, wie sich die Erde in den letzten zehntausend Jahren verändert hat. Sie sehen die heutigen Populationszentren im Osten Nordamerikas, Sie sehen sie in Europa und in China mit gigantischen Zuwachsraten. Wenn Sie die Satellitenaufnahmen von Shanghai von 1980 bis heute als Film durchlaufen lassen, dann sehen Sie, wie diese Stadt innerhalb von Jahrzehnten auf 24 Millionen Einwohner angewachsen ist. Wir reden von einem Zeitraum einer Generation. Wir reden nicht über einen Vorgang, der Jahrhunderte dauerte. 

Der Mensch ist dominierender Evolutionsfaktor einer Umwelt, von der wir sagen: „Wir gehören nicht dazu.“ Wir ziehen uns da raus: Nicht nur als Krone der Schöpfung und all den Theorien, die damit verknüpft sind – auch das kann man als Evolutionsbiologe erklären –, sondern wir nehmen uns auch raus, weil wir den Bezug zur Natur komplett verloren haben. In den Industrienationen sind inzwischen siebzig bis achtzig Prozent der Bevölkerung in Städten aufgewachsen. Dass wir keinen Naturbezug mehr haben, ist global ein Trend. 

Auf der anderen Seite bekommen wir viele Regionen, die menschenleer sind und die die großen Populationszentren der Erde ernähren müssen. Denken Sie an die großen Megacities, an Städte in China mit mehr als zehn Millionen Einwohnern, die in Europa niemand kennt oder auch nur wahrnimmt. Diese Zentren mit insgesamt 350 Millionen Menschen sind am Jangtsekiang wie Perlen auf einer Kette aufgereiht. Chongqing liegt am Drei Schluchten Damm, gefolgt von Wuhan mit elf Millionen Menschen und Nanjing, bis hin nach Shanghai mit 24 Millionen Menschen. Die chinesische Populationswelle dokumentiert sich in diesen Cities. Die Menschen strömen ins umliegende Land, der Ressourcenverbrauch ist immens. Dort kann man sehen, was passiert, wenn wir eine oder zwei Milliarden Menschen mehr sind – zum Beispiel demnächst in Afrika. 

In Afrika gibt es Rodungen von Ur-
wäldern. Allerdings gibt es sie aus anderen Gründen als in Brasilien. In Bolsonaros Amazonasgebiet wie auch in Gebieten Südostasiens werden die Urwälder für landwirtschaftliche Produkte vernichtet, die wir in der EU brauchen, zum Beispiel für Palmöl oder Sojabohnen. 

In Afrika ist der Grund der Rodungen ein ganz anderer. Da geht es darum, dass sich eine wachsende Bevölkerung aus und von dem Wald ernährt. Death by a thousand cuts – klei-
ne Bauern, die auf diese Weise versuchen, ihr Überleben zu sichern. In diesen drei großen Regenwaldregionen verändert der Mensch die Erdoberfläche und damit eigentlich die Evolution. Nicht nur, was den Kohlenstoffdioxidanteil der Atmosphäre angeht und was die Einlagerung von Kohlendioxid angeht.

Sind die komplexen Zusammenhänge für jedermann zu begreifen?

Henry Ford sagte vor über 100 Jahren: „Wenn ich die Leute gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt: schnellere Pferde.“ Man setzt immer auf das, was man kennt.

In einem Sammelband, der Anfang des 20. Jahrhunderts erschien, sind Vorstellungen darüber aufgeführt, wie die Zukunft aussehen könnte. In diesem dicken Werk findet sich kein einziger Beitrag über das Automobil, obwohl es das damals schon gab. Das Automobil wurde komplett unterschätzt.

So unterschätzen wir heute die eigentlich wichtigen Themen, über die wir debattieren müssten: nämlich die Zusammenhänge des Artensterbens. Alle reden jedoch nur über den Klimawandel – ganz klar auch ein wichtiges Thema. Und zusätzlich haben wir Zoonosen und daraus resultierende Pandemien.

Für die Veränderung der Vegetation, die Zusammensetzung der Arten, für die Stabilität der Ökosysteme – für all das ist der Klimawandel nur in einer Größenordnung von zehn bis fünfzehn Prozent verantwortlich. Den Rest besorgt das, was wir euphemistisch als Landnutzungsänderung bezeichnen. Das Roden der großen Regenwälder, die Umwandlung in Agrarflächen und die Zerstörung der zusammenhängenden Lebensräume von vielen Arten: Das ist das größte Problem des 21. Jahrhunderts.

Die Fehleinschätzung ist ähnlich ignorant wie damals bei den Automobilen. Wir haben nicht erkannt, wo unsere Probleme sein werden.

Das Artensterben wird populärwissenschaftlich noch nicht so intensiv behandelt wie der Klimawandel. Kommunikativ eindrucksvoll sind hier die Schilderungen bezüglich der Kipppunkte – das Tauen der Permafrostböden, das Versiegen des Golfstroms und so weiter. Gibt es solche Kipppunkte auch in der Diversitätskrise?

Damit machen Sie zwei Fragen auf: 1. Wie kann man das Artensterben klug kommunizieren? 2. Gibt es in der Biologie auch Kipppunkte? Fangen wir einmal mit der letzten Frage an. In der Klimaforschung werden die Kipppunkte kommunikativ stark bedient. Es gibt Wissenschaftler*innen, die sagen, dass man das auf die biologischen Systeme nicht übertragen könne. Unter anderem, weil die komplexen Systeme nicht bekannt genug seien. Wir reden hier über zwei Millionen beschriebene Arten – von acht, die wir hier auf der Erde beherbergen. Ein Großteil der Komponenten ist nicht bekannt und nicht erforscht.

In der Biologie sollte man eher an einen Jenga-Turm denken. Man kann einige Steine aus dem Turm ziehen, sollte aber die Basis unberührt lassen.

Wir sollten über so etwas wie eine funktionelle Biodiversität nachdenken. Unser Blick wird – und das ist gefährlich – auf die Arten auf der Roten Liste gelenkt. Sie wissen, dass die International Union for the Conservation of Nature (IUCN) diese Roten Listen als Flagschiffarten nutzt, um auf die Gefährdung von Lebensräumen insgesamt aufmerksam zu machen. Aber dadurch fokussieren wir auf wenige 10.000 Arten – mehr sind nicht erfasst. Übrigens sind viele dieser erfassten Arten auch datendefizitär – nehmen Sie als Beispiel den Schneeleoparden, der in dreizehn asiatischen Ländern oberhalb von 3.000 Metern lebt und bei dem wir nicht genau wissen, ob es überhaupt noch 2.500 Exemplare gibt. Das wäre nämlich die Mindestgröße einer Population, um sicherzustellen, dass diese Art in freier Wildbahn überlebt.

Das heißt, der Fokus auf wenige Arten und dann auch noch auf wenige ausgestorbene Arten, der lenkt völlig von der Hauptproblematik ab. Wir haben nachweislich mehr als 800 Arten unter den Wirbeltieren in den letzten 500 Jahren verloren. Es kommen in nächster Zeit sehr wahrscheinlich weitere 500 Arten hinzu, weil wir wissen, dass es sehr viele Wirbeltierarten gibt, bei denen die Populationsstärke schon unterhalb der Größenordnung von 250 Exemplaren gesunken ist. Die lassen sich kaum oder nur mit einem Milliardenaufwand wirklich retten. Die Kurve steigt exponentiell nach oben. Das mag erschreckend klingen, und das ist in Einzelfällen auch sehr traurig, wenn zum Beispiel der Tiger im Freiland ausstirbt, was passieren wird. Um das Jahr 1900 hatten wir noch um die 100.000 Tiger, heute sind es knapp 4.000 Exemplare im Freiland. Es gibt mehr Tiger in Zoos und im Zirkus.

Selbst, wenn Sie diese über 1.000 Säugetierarten, die aussterben – das Nashorn, den Tiger und viele andere –, als Artenschützer*in vor Augen haben, dann müssen wir anerkennen, dass diesen Arten alle weiteren acht bis neun Millionen Tierarten gegenüberstehen – mit der Warnung des Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES), dass in den nächsten Jahren und Jahrzehnten eine Million Arten davon verschwinden werden. Da denkt man: „Wie kann das sein? Wir haben doch gerade erst 500 bis 1.000 Arten verloren! Wieso jetzt eine Million?“ Wir haben bei den acht Millionen Tierarten eine überwiegende Mehrzahl von unscheinbaren Arten, die aber für unser Ökosystem Dienstleistungen erbringen. Denken Sie einmal an folgende Verzerrung unserer Wahrnehmung: In Europa gibt es 550 Wildbienenarten, davon gibt es nur eine bekannte, die Honigbiene Apis mellifera, das domestizierte Hausschwein unter den Wildbienen. Aber alle diese Arten übernehmen Bestäuberdienstleistungen für Äpfel, Birnen und viele andere Pflanzen, von denen wir uns ernähren.

Lange Rede, kurzer Sinn: Wir nehmen Steine aus dem Jenga-Turm, von deren Bedeutung wir noch viel zu wenig wissen. Nehmen wir einmal an, eine Honigbienenart oder der Tiger sterben aus. Ist das für unser Ökosystem entscheidend? Vermutlich nicht. Vermutlich deswegen nicht, weil es, um im Bild der Jenga-Steine zu bleiben, in jedem Stein Funktionszusammenhänge gibt. Ein Jenga-Stein besteht aus einem Block sehr vieler verschiedener kleinerer Steinchen. Wenn immer mehr von diesen kleineren Steinchen herausgenommen werden, ist man irgandwann an dem Punkt, an dem ein Jenga-Stein seine Stabilität verliert. So stellen wir uns im Moment diese funktionelle Biodiversität und dieses bedrohlich rapide Verschwinden von Arten unterschiedlichster Lebensräume vor.

Gibt es Systeme, bei denen Sie heute schon wissen, dass sie sich nicht mehr selber in ihrer Funktionalität regenerieren können?

Das ist etwas, das bei der Rodung der Regenwälder befürchtet wird. Experten sagen für den brasilianischen Regenwald voraus, dass die selbstregulierenden Wasserkreisläufe, die für das Klimageschehen – Verdunstung, Wolkenbildung und Regen – weltweit von großer Bedeutung sind, zum Erliegen kommen, wenn eine bestimmte Größe der Verluste überschritten wird. Genauso können wir uns das in biologischen Systemen vorstellen, dass sie irgendwann einfach nicht mehr funktionieren.

Wie kann man diese hyperkomplexen Zusammenhänge einer Bevölkerung, die für diese Thematik nicht offen zu sein scheint, begreiflich machen?

Wir haben wie gesagt vielleicht den Fehler gemacht, auf einzelne Arten zu fokussieren. Wir denken viel zu wenig in der Kategorie der funktionellen Biodiversität und picken uns die Schicksale von Nashörnern und Tigern heraus. Wir erreichen die Bevölkerung nicht über Aussterbezahlen oder -raten. Der Vorschlag, der nicht nur als kommunikatives Element, sondern auch als gestalterisches Element des Naturschutzes gelten soll, ist das 30-30-Ziel. Bis zum Jahr 2030 soll die Fläche, die unter Schutz gestellt wird, verdoppelt werden. Zurzeit haben wir im terrestrischen Bereich fünfzehn Prozent Naturschutzgebiete. So entstünde ein globales Sicherheitsnetz mit dem Ziel, bis 2050 fünfzig Prozent der Flächen zu regenerieren, die Vegetationsflächen auch tatsächlich zu erweitern, um nachhaltigerweise diese Flächen für die Ernährung der Menschen nutzbar zu machen. Das geht nur durch Innovationen wie beispielsweise satellitengestützte Bewässerung oder Düngung in den Indus-trieländern. Wir reden aber auch über die Wiederherstellung degenerierter Lebenräume – auch in den Entwicklungsländern. Wir müssen versuchen, diese Flächen unter Schutz zu stellen. Das müsste das politische Ziel sein, genauso wie das griffige 2-Grad-Ziel im Klimaschutz. Wir werden also bei der Verhinderung des Artensterbens nicht mit einzelnen Arten, sondern mit dem eben genannten Flächenziel arbeiten.

Das ist messbar. „Habt ihr das erreicht? Welche Flächen habt ihr unter Schutz gestellt? Und ganz wichtig: Wie habt ihr sie unter Schutz gestellt?“ Viele Länder, die auf dem Papier auch heute schon versuchen, den geschützten Teil ihrer Natur zu erhöhen, wählen oft Gebiete, in denen keine Artenvielfalt vorhanden ist. Man muss sich im Gegenteil sehr gezielt die ca. 840 Ökoregionen der Erde ansehen, schauen, wo bestimmte Arten leben und wo wichtige Funktionszusammenhänge sind, und diese dann aus der Nutzung herausnehmen. 

An welche Gebiete denken Sie da?

Ich denke, wir sollten hier gerade auch in die Küstenbereiche gucken, dorthin, wo die großen Metropolen ansässig sind. Wir müssen Mangrovenwälder und Korallenriffe erhalten, die für uns Menschen Ökodienstleistungen erbringen. 

Mit unserem 30-30-Ziel können wir etwas gegen das Artensterben tun. Ich will es noch einmal betonen: Es geht nicht um den kalifornischen Condor, den Andencondor oder andere einzelne Arten, die wir erhalten wollen, sondern es geht um die Erhaltung der Menschheit und um ihre Ernährung. Ich bin Biologe und bin nicht hellseherisch tätig, um sagen zu können, dass es Lösungen für das Problem Homo sapiens gibt. Diese Lösungen – Verteilungskriege, Hungersnöte, Überbevölkerung, Chaos und Krankheiten – werden dem Problem Herr werden. Aber genau das wollen wir nicht. Das Ende der Evolution ist eine Bedrohung für uns selber. 

Als ich geboren wurde, gab es etwas mehr als drei Milliarden Menschen, ein halbes Jahrundert später sind wir bei fast acht Milliarden. Heute muss man auch niemandem mehr erklären, was exponentielles Wachstum ist. Das hat jede*r verstanden, auch als Nicht-Naturwissenschaftler*in. Es gab Bücher über die Bevölkerungsexplosion: Zum Beispiel The Population Bomb von Paul R. Ehrlich aus dem Jahr 1971. Wir sind verstandesgemäß geprägt auf einen afrikanischen Savannen-Lebensraum und versuchen, unsere Probleme mit dieser mentalen Ausstattung zu lösen. Was nicht heißt, dass ein Albert Einstein nicht über Weltraumdimensionen nachdenken kann. Aber wir sind für das Tagtägliche gebaut und nicht für das Nachdenken über Zinseszins und exponentielles Wachstum.

Also ist die Überbevölkerung, und nicht die genetische Vereinfachung oder unsere Monokulturen, die ausschlaggebende Ursache für unsere Biodiversitätskrise?

Ja. Die Antwort darauf kann allerdings nicht Bevölkerungskontrolle mit Verboten sein. Wir müssen darauf bauen, über Bildung und andere Maßnahmen erkennen zu lassen, dass in Afrika und Asien die Lebensversicherung nicht über drei bis vier Kindern besteht, sondern dass sie anders geregelt werden muss.

Noch einmal zurück zu unserem mentalen Rüstzeug. Eine erkleckliche Zeit der Menschheitsgeschichte sind wir als Nomaden umhergewandert, haben uns genommen, was wir brauchten, und zogen weiter, wenn die Ressourcen erschöpft waren. Mit diesen Verstandesleistungen laufen wir heute immer noch herum und verhalten uns auch noch genauso.

99,6 Prozent der Evolutionszeit des Homo sapiens, immerhin 300.000 Jahre, waren wir als Jäger und Sammler unterwegs. Es ist doch ganz klar, dass uns diese lange Evolutionszeit mental und auch körperlich geprägt hat. Unsere Hautfarbe hat sich erst in den letzten paar Tausend Jahren durch die Übersiedlung in boreale Zonen geändert. Der aufrechte Gang verursacht uns Rückenschmerzen und Hexenschuss. Das sind Folgen der Evolution, denn unser Körperbau ist ein Vierfüßlerkörperbau. 

Vor ungefähr 10.000 bis 12.000 Jahren hat sich der Mensch in seinem Verhalten komplett verändert. Er ist sesshaft geworden, betrieb plötzlich Ackerbau und Viehzucht, er unterdrückte Frauen, bildete patriarchale Strukturen und religiöse Gemeinden. Darauf schauen wir viel zu wenig. All dem tragen wir auch insofern keinerlei Rechnung, als dass wir immer sagten, die Entwicklung sei kontinuierlich und man habe sich daran angepasst. Tun wir nicht! Wir treten in die Zukunft ein mit einem Rucksack und der Ausstattung eines primitiven Nomaden. Danach handeln wir auch. Schauen Sie sich die Nachrichten an: Da finden Sie Jäger-und-Sammler-Verhalten. Das Ausplündern, Kleingruppen, die betont werden, Abgrenzungen gegen andere, der nationale Egoismus. Wir sind nicht wirklich in der kulturellen Evolution angekommen.

Hinzu kommt, dass wir mehr und mehr verlernt haben, die Natur zu lesen. Keiner von uns kann beurteilen, was da draußen vor sich geht. Wenn man durch den Wald geht, spürt man, wie gut einem das tut, aber man kann die Zeichen nicht mehr deuten. In den 1960er-Jahren gab es in Nordrhein-Westfalens Grundschulen und den ersten Klassen in Gymnasien viele Lehrgänge durch die Natur. Könnte das ein Weg sein, die Jugend, die heute sehr viel mehr virtuell unterwegs ist, an die Natur heranzuführen?

Sie sprechen mit jemandem, der durch seine Arbeit im Naturkundemuseum den großen Anspruch hat, diese Wissenslücken zu schließen. Das ist tatsächlich ein tiefergehendes Problem. Sie haben das völlig richtig angesprochen: Wir haben den Kontakt zur Natur verloren. 

Warum ist das so? Das hängt ganz entschieden mit unserer 1.000-jährigen abendländischen Geschichte zusammen. Wir reden nicht nur religiös bedingt von dem Menschen als der Krone der Schöpfung. Wir reden auch davon, dass der Mensch außerhalb der Natur steht. 

In Neuseeland wurde ein Fluss unter Naturschutz gestellt. Er bekam dadurch Rechte, die von einem Ranger und einem Maori vor Gericht vertreten werden. Das ist eine Vorstellung, die wir im Abendländischen nicht haben. Wir sehen die Menschen als Halbgötter an, die außerhalb der Natur stehen. Wir haben ein falsches biologisch nicht begründetes Naturverständnis.

Die meisten Menschen verstehen nicht, woher sie kommen, wo sie stehen und dass sie Teil der Natur sind. Sie können im pulitzerpreisgekrönten Bestseller von Neil Shubin, Your inner fish, lesen, dass wir eine Wirbelsäule haben wie andere Wirbeltiere auch, dass Manteltiere mit uns verwandt sind, dass unsere Schildrüse von Kiemenapparaten von fischähnlichen Organismen herrührt, dass wir mit dem Naturreich sehr eng verbaut sind. Ein Geologe würde erklären können, dass unsere Tränenflüssigkeit das Salz unserer Atmosphäre enthält. Wir wissen natürlich, wir sehr der Mensch Teil dieser Natur ist.

Aus einem komplett falschen Naturverständnis heraus wurde der Mensch aus der Natur herausgelöst. Viel wichtiger schien, dass es viele Dinge erst dadurch gibt, nur weil wir darüber nachdenken können. Eine absurde philosophische Vorstellung. Die Fokussierung auf den Menschen, die wir den Geistes- und Kulturwissenschaften verdanken, steht den Erkenntnissen entgegen, die wir in den Naturwissenschaften gewonnen haben. Dieser Wettstreit hat dazu geführt, dass wir eine Dominanz der Geistes- und Kulturwissenschaften in Gesellschaft und Politik haben. Mit anderen Worten: Nicht zu wissen, wer Kandinsky ist und dass er zur Gemeinschaft Der Blaue Reiter gehörte, ist gesellschaftlich unentschuldbar, aber nicht zu wissen, was eine Kakerlake ist, geschweige denn, zu welcher Ordnung und welchem Unterstamm sie zählt, ist im Small Talk eher lustig. Naturwissenschaftler*innen werden eher belächelt als Schmetterlingsfänger*innen. Wir reden lieber über Kunst – das sind die Dinge, die wichtig sind.

Dann haben wir die Entwicklung bei den Jugendlichen, die mit ihren Smartphones in virtuellen Welten unterwegs sind, aufgewachsen in einer Stadtwohnung ohne jeglichen Naturbezug. Dänen haben herausgefunden, dass man Gefahr läuft, psychisch auffällig zu werden, je geringer der Grünanteil der Umgebung ist, in der man aufwächst. 

Sie haben in Ihrem Buch ganz am Ende zwei Rückschauen aus dem Jahr 2062. Es gibt zwei Szenarien: ein Rettungs- und ein Untergangsszenario. Wie sind Sie hier vorgegangen?

Die Rückschauen sind mit einem sehr groben Pinsel skizziert. Die Szenarien spielen mit denselben Faktoren und Lebensräumen. Wie sind wir mit unserem Erbe umgegangen, haben wir es verstanden, uns mental zusammenzuraufen und uns kulturell weiterzuentwickeln? Haben wir es verstanden, die Dinge zu überwinden, die wir heute tun: nationaler Egoismus, erhöhter Ressourcenverbrauch und Ähnliches.

Ich mach es mal am Beispiel der Regenwälder fest. Im Untergangsszenario ist es uns nicht gelungen, das Roden der natürlichen Vegetation dieser Erde in den Tropen – das sind die Schatzkammern der Biodiversität – zu verhindern. 2062 sind diese Gebiete für den Anbau von Pflanzen zur Ernährung der Menschen nicht mehr geeignet. Wir bekommen gravierende Ernährungsprobleme, weil die Überbevölkerung nicht kontrolliert wird. Es werden weitere Pandemien durch Zoonosen entstehen. Sie dezimieren die Weltbevölkerung in einem Maß, das mit den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie nicht zu vergleichen ist.

Das Rettungsszenario sieht Konstellationen vor, bei denen ich wirklich die Hoffnung habe, dass große Nationen wie die USA, der europäische Staatenverbund und China sich am Verhandlungtisch darauf einigen, den Ressourcenverbrauch zu begrenzen, den Umgang mit Natur in dem Sinne zu sanktionieren, dass Handelspartnerschaften nur noch mit den Staaten eingegangen werden, die auf ihre Natur achtgeben. Das wäre eine kumulativ kulturelle Evolution, die unser Verhalten verändert, die Anpassungen an die begrenzten Umweltbedingungen schafft und die ein Abflachen des Bevölkerungszuwachses bewirkt. Wir werden nicht alle Tierarten und alle Flächen retten. Aber es ist unser Anspruch, dass wir einen Großteil der Natur aus der ungeschützten Nutzung herausnehmen.

Diese beiden Szenarien sind entstanden, weil ich mich beim Schreiben des Buches nicht entscheiden konnte, welches der beiden ich für wahrscheinlicher halte. Gelingt uns eine Verhaltensänderung – ähnlich der Selbstdomestikation des Menschen im Zuge des Sesshaftwerdung – zu bewerkstelligen? Oder nicht?

Die Pessimisten werden sagen, dass es uns nicht gelingt. Andere werden sagen, wir hätten Sklaverei und Kolonialismus überwunden, so würde uns auch das gelingen. Das hat allerdings Jahrhunderte gedauert – wir haben keine Jahrhunderte, um zu handeln. Wir werden in den nächsten Jahrzehnten Verluste an Biodiversität verzeichnen. Die Weichenstellung müsste in diesem Jahrzehnt erfolgen.Deshalb ist es wichtig, über den Artenverlust noch viel mehr zu reden als über den Klimawandel und die Elektromobilität.

Schon deshalb bin ich Ihnen dankbar für die Möglichkeit dieses Gesprächs, um Menschen zu diesem Thema zu erreichen.

Was macht Sie heute zum Pessimisten, was zum Optimisten?

Ich könnte pessimistisch sein, wenn ich mir die bisherige Performance vom Homo sapiens anschaue. Da spricht einiges gegen uns. Wir haben unsere Ressourcen unserem genetischen Programm folgend unbedacht ausgeplündert. 

Jetzt geht es aber darum zu sagen, dass wir etwas verstanden haben. Ich glaube, wir können etwas tun. Die Tatsache, dass ich so viel darüber rede, kann man schon als Optimismus werten. Als Pessimist würde ich schweigen, denn der Mensch wäre nicht zu retten. Wir müssen uns der Problematik erst einmal bewusst werden. Ich glaube, dass Institutionen – von Schulen und Universitäten bis hin zu Naturkundemuseen – sich diese Themen auf die Fahne schreiben müssen. Es wird ein jahrzehntelanger Prozess, den wir begleiten müssen. Schauen Sie sich die letzten 100 Jahre an, durch welche kreativen Ideen und welchen Veränderungswillen sich die Welt allein in der Mobilität und der Kommunikation verändert hat, dann wissen Sie, es ist machbar. Wir sollten es versuchen!

Herr Prof. Glaubrecht, vielen Dank für dieses Gespräch.

Das ganze Gespräch in Band 3 wie wir morgen nachhaltiger leben wollen

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Von Eckard Christiani

Eckard Christiani ist ein Journalist, Kommunikationsberater und Grafikdesigner.