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Algorithmen können nicht kuratieren!

Wen fragt man am besten, wenn es um unsere Medienwelt geht, wenn man wissen will, wie sich unser Medienkonsum in den letzten Jahrzehnten verändert hat und wohin die Reise im Internet geht? Man fragt Mr. Media Thomas Koch. Denn er arbeitet seit fast fünfzig Jahren im Mediabereich, weiß, wie das Geschäft läuft, sieht oftmals als Erster, welche Möglichkeiten sich auftun, aber auch, welche Gefahren im Umgang mit unseren Daten entstehen können. Wir trafen Thomas in Berlin, um es ganz genau zu erfahren.

Thomas, du bist Media-Berater. Was tust du genau?

Wenn man Menschen erzählt, was ein Mediaplaner macht – nämlich die Auswahl der Medien für Werbekampagnen –, dann sind sie oft ganz erstaunt, dass es Leute gibt, die sich mit so etwas beschäftigen. Ich frage dann gern zurück,  ob denn beispielsweise der Ferrero-Küsschen-Fernsehspot rein zufällig über das gerade eingeschaltete TV-Gerät flimmert. Dann heißt es meist, dass man da noch nie drüber nachgedacht hätte. Im Radio ist es genauso. Oder wenn man eine Zeitschrift aufblättert. Überall finden wir Werbung. Irgendjemand muss beschließen, was da wann für wen erscheint. Und das mache ich – den ganzen Tag.

Wieso macht das das Ferrero-Küsschen nicht selber und ruft einfach mal beim Sender an?

Die Marketingabteilungen in den Unternehmen haben schon genug mit ihrer eigentlichen Aufgabe zu tun, nämlich damit, die Marke zu vermarkten. Werbung spielt natürlich keine untergeordnete Rolle für die Marke, aber für die Markenverantwortlichen macht sie nur zehn bis zwanzig Prozent ihrer Agenda aus. Media wiederum macht nur zehn bis zwanzig Prozent der Werbethemen aus. Man kann unmöglich für alles gleichzeitig bestens qualifiziert sein.

Thomas Koch, 69, ist deutscher Media-Experte, Unternehmer und Blogger.

Als ich begann, war Media relativ einfach. Es gab zwei Fernsehsender, eine Handvoll Radiosender, Plakatstellen, ein paar Zeitschriften und Tageszeitungen. Da konnte man prima den Überblick behalten.

Heute ist die Menge an Möglichkeiten unvorstellbar groß. Es fängt damit an, dass ich dreißig TV-Sender habe, in denen ich werben könnte und hört noch lange nicht mit den unzählbar vielen Websites auf, die ich mit Werbung belegen könnte. Nein, das kann unmöglich die Aufgabe eines Marketingmenschen sein. Dafür gibt es andere Spezialisten. Genauso wenig, wie der Werbeleiter die Grafik für seine Anzeigen übernimmt – auch wenn er dies gern möchte – oder den Text dafür schreibt. Auch dafür hat er seine Spezialisten. Und das ist auch schon der zweite Teil der Antwort: Diese Spezialisten muss jemand zusammenbringen. Text und Bild müssen selbstverständlich zusammenpassen. Deswegen ist es sinnvoll, dass der Copywriter mit dem Art Director in einem Raum sitzt. 

Der 2098. von allen: Thomas Koch – kaum zu erkennen ohne seinen Schnurrbart.
Mehr als 3.500 Menschen nannten 1973 ihre Gründe, einen Jägermeister zu genießen. Alle abgebildeten Personen waren Menschen wie du und ich. 

Media ist sehr zahlenbehaftet. Mediamenschen arbeiten sehr viel mit Daten. Sie machen, wenn man so will, ein bisschen die Werbebuchhaltung. Sie sitzen meist nicht mit den Kreativen an einem Tisch. Mediaagenturen sind schon seit Jahrzehnten unabhängige Unternehmen und arbeiten parallel zu den Werbeagenturen.

Das geht so weit, dass es den Medialeuten egal ist, was die Werber für Botschaften verpacken, und es den Werbern wurscht war, in welchen Medien diese Botschaften erschienen. Sie arbeiteten völlig nebeneinander her. 

Ging das nicht völlig in die Hose?

Genau! Ich habe es mir ziemlich schnell angewöhnt,  – in meiner GGK-Zeit, die mich am stärksten geprägt hat – mit den Kreativen sehr eng zusammenzuarbeiten. Die Werbebotschaft verknüpft mit der Plattform, auf der die Werbung ausgespielt wird, zu erdenken, das sind meine Profession und mein Unterscheidungsmerkmal. Während die meisten Medialeute so vor sich hin werkeln und mit der Kreation nichts am Hut haben, arbeite ich immer eng mit den Kreativen zusammen. Das macht unsere Kampagnen durchaus erfolgreicher. 

Wie lief deine Ausbildung?

Ich habe in den 1970er-Jahren eine sehr intensive Ausbildung genossen, die man heute aus verschiedenen Gründen nicht mehr so machen kann, weil die Ausbilder bisweilen viel zu wenig von Media verstehen und weil einfach zu wenig Zeit dafür da ist. Bevor wir damals auf einen Kunden losgelassen wurden, hat es zwei Jahre gedauert. Ich durfte mich mit Marktforschung und anderem trockenen Zeug beschäftigen.Vorteil: Ich kenne mich in diesen Themen aus und weiß, wo die Fallstricke sind. Das ist natürlich sehr hilfreich. Wer sich heute ausbilden lässt, bekommt seinen ersten Klienten nach zwei Monaten. 

Und was braucht man noch, um ein guter Mediamann zu sein?

Neben einer guten Ausbildung und dem Willen, mit der Kreation zusammen zu arbeiten? Gesunden Menschenverstand! Immer zu fragen: „Macht das eigentlich Sinn, ist das logisch, was wir da machen? Oder ist es nicht doch etwas, was uns der Rechner vorexerziert hat?“

Capital bezeichnete dich schon vor 25 Jahren als „profiliertesten Vordenker der deutschen Werbung“. 2004 wurdest du von Media & Marketing Europe in die Galerie der 15 Personen aufgenommen, die die europäische Werbebranche am meisten bewegt haben – zusammen mit Maurice Lévy, Rupert Murdoch und Sir Martin Sorrell. Was bedeutet dir das?

Das Lob von Capital damals war so etwas wie eine etwas zu frühe Krönung. Ich hoffe, ich bin dem Superlativ in der Zwischenzeit auch gerecht geworden. Jedenfalls gab es bislang keinen Widerspruch … 

Durch die Galerie von Media & Marketing Europe bin ich zum ersten Mal auf europäischer Ebene wahrgenommen worden. Die Einreihung in eine Liste mit diesen Wirtschafts- und Werbegrößen hat mich durchaus erröten lassen und dürfte einigen meiner Wettbewerber in Deutschland die Zornesröte ins Gesicht getrieben haben. Für meine PR und die Positionierung meiner Agentur war es natürlich genial. 

Dein Weg ist nicht unbedingt immer gerade gewesen. Sind es Neugier und Lust am Experimentieren, die dich antreiben?

Neugier und vor allem die Lust an Neuem sind die Treiber. Aber dazu gehört – neben Mut – auch eine gehörige Portion Naivität. Man kann nicht immer alles bedenken und vorausplanen. Dann würde man wahrscheinlich nie etwas Neues starten. Man muss einfach eine Idee gut finden, stets mit Leidenschaft zu Werke gehen und einfach loslegen. Das führt aber zwangsläufig auch dazu, dass man immer wieder einmal Schiffbruch erleidet. Zum Beispiel mit einer Agentur gemeinsam mit dem Marketingchef eines großen Telekommunikationsunternehmens, mit der wir versuchten, die Europa-Lizenz für die Übertragung der Olympiade in Peking zu ergattern. Wir haben wie Anfänger versagt. Oder mit einer Galerie für zeitgenössische Kunst in Düsseldorf. Sie wurde von der Kunstwelt gelobt, schaffte es aber leider nicht, einem ihrer Künstler zum Durchbruch zu verhelfen. Das hat nicht einmal dem Ego wirklich wehgetan, aber meinen Horizont ungemein erweitert. Und wahrscheinlich dazu beigetragen, dass viele andere meiner Experimente sehr erfolgreich waren.

Ein Beispiel: Neugier und Mut führen mich seit vielen Jahren in einige Krisengebiete der Erde: nach Afghanistan, Libyen, Irak, Sudan u. v. a. m. Eine NGO in Berlin bat mich, ihnen zu helfen, junge, aber finanziell angeschlagene Medien nach den Aufständen in diesen Ländern in der Kunst der Positionierung und des Marketings zu instruieren. Ich sagte spontan zu und fand mich kurz darauf in Ländern wieder, die wir nicht gerade als Reisegebiete auswählen.

Thomas Koch im Südsudan

Viele der von uns gecoachten Medien überlebten. Und ich erlebte, dass meine Profession tatsächlich auch für etwas wirklich Gutes und Wertvolles zu gebrauchen war. 

Du hast vorhin gesagt, dass die Möglichkeiten früher bis in die 1990er- Jahre noch recht übersichtlich waren. Wie kann man heute bei den unzähligen Plattformen noch Fachmann sein?

Entweder bist du Generalist oder Spezialist. Ich zähle mich sicherlich zu den Generalisten, die die Feinarbeit gern den Spezialisten überlassen. 

Es gab Zehnjahresschübe, in denen sich sehr viel verändert hat. In den 1980er Jahren bekamen wir Daten über die Konsumenten. Plötzlich wussten wir nicht nur, wie alt die Leser*innen der Bunte sind oder wie viel Prozent Männer das Heft lasen. Wir wussten jetzt, wie häufig die Leser*innen Joghurt essen und ob sie planen, ein Auto zu kaufen. Über diese Informationen zu verfügen, hat die Profession der Mediaplanung damals sehr weit gebracht und ihr geholfen, die Zielgruppe besser anzusprechen. Kein Vergleich zu heute, wo der Verbraucher fast nackt vor uns steht und wir beinahe alles über ihn wissen.

In den 1990er-Jahren war die Einführung des Privatfernsehens ein erneuter Schub, der uns eine völlig neue Welt eröffnete. Es gab nicht nur mehr Sender, sondern auch mehr Informationen darüber, wer wann was guckte. Wann guckten die jungen Leute welche Sender und welche Sendungen? Und was schaut die ältere, kaufkräftigere Generation – zum Beispiel in zwei Wochen auf diesem oder jenem Sendeplatz? Das wussten wir auf einmal einigermaßen minutiös. Je mehr wir erfuhren, desto eher konnten wir unseren Kunden Mediaplätze empfehlen.

Dazu eine kleine Anekdote: Ich wurde Mitte der 1990er-Jahre von Bettina Böttinger in ihr Medienmagazin Parlazzo eingeladen. Natürlich hatte ich Lust dazu. Wer ist nicht ab und zu gern im Fernsehen. (lacht) Über das Thema des Interviews wusste ich nur, dass es um  TV-Zuschauerdaten ging. Es begann ganz harmlos. Wie denn die Zuschauerdaten erhoben würden, was wir mit ihnen anstellten, wie man sie auswerte, wollte die Moderatorin von mir wissen. Dann kam sie zur Sache: „Herr Koch, wenn Sie alles so genau wissen, dann werden Sie ja auch wissen, was jemand guckt, den ich Ihnen gleich präsentieren werde.“ Ich sagte: „Ja!“ (lacht) Mir rutschte natürlich das Herz in die Hose. Ihr Assistent – ich glaube, es war Ingolf Lück, wenn ich das richtig in Erinnerung habe – ging ins Publikum zu einem jungen Mann und bat ihn, aufzustehen und uns zu sagen, wer er sei und was er mache. Er stellte sich als 26-jähriger Student aus Köln vor. „So, Herr Koch, dann erzählen Sie doch mal, was der junge Mann im Fernsehen so guckt!“ „Sie sehen regelmäßig Nachrichten, viel Sport und Science-Fiction. Vor allem Serien wie Stargate. Das sehen Sie jede Woche!“ Der junde Mann wurde immer blasser und konnte nicht mehr an sich halten: „Das stimmt alles! Woher wissen Sie das? Sie können doch nicht wissen, was ich im Fernsehen gucke!“ „Doch! Sie gucken genau das, was die meisten Männer in Ihrem Alter gucken.“ – Das hätte natürlich in die Hose gehen können. (lacht) Aber zurück zum Thema. Der nächste Zehnjahressprung in den 2000er-Jahren war natürlich das Internet, was uns vor völlig neue Herausforderungen stellte und uns mit einer Datenflut segnete, derer wir kaum Herr wurden und werden. Wir haben inzwischen mehr Daten, als wir gebrauchen können. Man könnte auch sagen, wir sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr.

Anfang der 1980er-Jahre wurde das Sinus-Milieu-Modell entwickelt und seither kontinuierlich an die gesellschaftlichen Veränderungen angepasst. Das ist für Deutschland der Klassiker der sozialwissenschaftlichen Gesellschaftsanalyse. Die Gesellschaft wurde eingeteilt in die Traditionellen, die Liberal-Intellektuellen oder etwa die Hedonisten. Haben diese Modelle noch Zukunft?

Das ist schön, dass du das ansprichst. Auch da erleben wir alle zehn Jahre etwas Neues. Die Sinus-Milieus qualifizierten sich für bestimmte Branchen als sehr gutes Instrument. Beim Konsum von Fleischwurst gab es keine besonderen Unterschiede, wohl aber bei Autos und bei Versicherungen, wenn ich das richtig in Erinnerungen habe. Da konnte man sehr schön differenzieren. BWM, Audi und Mercedes waren im Modell immer ganz weit oben – von den Konservativ-Etablierten bis hin zu den Performern –, während Opel und VW im mittleren unteren Bereich rund um die bürgerliche Mitte zu finden waren. Die Milieus setzten sich nicht durch, da sie nur bei bestimmten Produktkategorien so richtig funktionierten. Inzwischen, seit circa zehn Jahren, spricht die Werbewelt von Personas. Wir beschreiben möglicht homgen ein Zielgruppensegment und geben diesem einen Namen: Silke, 28, liebt aktuelle Mode, schminkt sich sehr gerne, geht gerne aus und so weiter.

Wobei hilft eine Persona? Was stelle ich mit ihr an?

Ich wünschte mir, mehr Leute würden mir diese Frage stellen! (lacht) Was nur ich weiß, weil ich das schon so lange mache, ist, dass wir die Personas schon in den 1970er-Jahren hatten. Damals nannten wir das Lifestyles. Was ich an der Idee gut finde ist, dass die Menschen anfassbarer werden. In einer bestimmten Warengruppe hast du immer jüngere und ältere Käufer*innen. Um zu begreifen, welche*r von diesen wichtiger als die oder der andere ist, hilft die Ziegruppensegmentierung. Die Personas sind plastischer und für die Kreation sehr hilfreich. Mit wem habe ich es eigentlich zu tun? Denn, wenn ich einem Kreativen sage, dass wir junge Frauen ansprechen wollen, weiß ich nicht, welches Bild in seinem Kopf entsteht.

Auf welcher Grund-
lage werden die Per-
sonas
beschrieben? 

Um eine Zielgruppe zu bilden, brauche ich Daten von Personen – und das unabhängig von der Mediennutzung. Die Daten werden durch Befragungen erhoben. Es gibt eine Vielzahl von unabhängigen Studien, die sich nur damit beschäftigen. Das ist für Mediakonzepte unabdingbar, dass die Daten nicht aus einer Quelle kommen, die mir gleich auch die Mediaplätze verkauft. Wen es interessiert, liest einmal die Markt-Media-Studie Best for Planning oder Ergebnisse der Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse. 

So ein Interview kann drei oder vier Stunden dauern. Aus diesen Studien können wir Mediennutzung und Konsumverhalten ablesen. Zusätzlich zu diesen Daten bekommen wir noch von jedem einzelnen Medium eigene Daten.

Dazu kommt, dass Facebook und andere – wie inzwischen jede*r weiß – unendlich viele Daten über jeden einzelnen User sammeln. Sie sind in der Lage, ein Profil von dir abzubilden und zu prognostizieren, was du als Nächstes machst. Diese Daten allerdings behält Facebook. Ich kann jedoch bei Facebook meine Zielgruppe bestimmen: Ich hätte gerne linksrheinisch wohnende Katholiken, die vorhaben, in der nächsten Zeit ein Auto der Oberklasse zu kaufen. Facebook wählt dann unter ihren Usern die Menschen aus, die dazu passen. Wie genau das dann ist, erlebt jeder von uns, wenn er bei Facebook unterwegs ist. Wir bekommen sehr viel Werbung ausgespielt, wo wir definitiv nicht gemeint sind.

Das Schönste, das ich jemals bei Facebook erlebt habe, war die Ausspielung einer Stellenanzeige eines japanischen Herstellers für Kettensägen. Die suchten jemanden für den Vertrieb in Deutschland. Wie kann das sein? Wie kommen die auf mich? Ich bin dann in meinen Posts durch die Vergangenheit gerauscht und habe festgestellt, dass ich wenige Wochen vorher gepostet hatte: „Heute Abend kommt Texas Chainsaw Massacre! Ich freu mich so drauf!“ (lacht) Daher die Kettensäge! Ganz klar für Facebook, dass sich dieser Mann mit Kettensägen beschäftigt und damit zur prädestinierten Zielgruppe für den Vertrieb von Kettensägen in Deutschland gehört. Dieses Beispiel zeigt, wie genau hier gearbeitet wird.

Womit man rechnen muss, ist, dass die Daten immer genauer und die Instrumente immer präsziser werden. Was jeder, den ich kenne, beklagt, ist, dass er Werbung zu etwas bekommt, was er gerade gemacht oder gekauft hat. Du hast ein Hotelzimmer in Frankfurt gebucht, dann erhältst du Werbung von Hotels in Frankfurt. Daran erkennt man, wie simpel und fehlerhaft diese Algorithmen noch sind. Das hat mit Künstlicher Intelligenz überhaupt nichts zu tun. Vielleicht fangen wir erst einmal mit menschlicher  Intelligenz an? Damit wären wir wieder beim gesunden Menschenverstand.

Wir haben gesagt, die Mediawelt wird immer komplexer. Zuletzt haben Podcasts den Markt erobert. Und Clubhouse. Was stellt man bloß damit an?

Es hat schon seinen Grund, warum es so einen Hype um Clubhouse gibt: Das gab es noch nie, und es ist absolut faszinierend. Ich klinke mich in einen Gesprächsraum ein zu einem Thema, das mir irgendwie interessant vorkommt, und höre da zu, was vermeintliche Spezialisten oder Besserwisser beizutragen haben. Teilweise ist das sehr unterhaltsam. Es gibt Schalke 04-Räume und BVB-Räume. Es gibt Tatort-Nachbesprechungsräume. Es gibt tatsächlich nichts, was es nicht gibt. Und das nach dieser kurzen Zeit! Ich höre da zu und kann auch mitreden, wenn ich mag. Das ist nur Audio, das heißt, ich muss mich nicht vorher duschen und frisieren. Und ich kann leise wieder verschwinden, wenn es beginnt, mich zu langweilen. Das Faszinosum daran ist, dass du auf Menschen triffst, an die du normalerweise nicht herankommst. Die Berliner Politszene ist völlig geflasht. Man trifft Philipp Amthor oder Bodo Ramelow in irgendwelchen Räumen. Natürlich ist die Reichweite gering, meist sind nur ein paar Hundert Leute im Raum, die teilnehmen. Aber das könnten sehr interessante Menschen und wichtige Meinungsbildner sein. Ich kann mir jedes einzelne Profil der Zuhörer*innen ansehen, wenn ich mag. Das hat es so in dieser Einfachheit und Spontanität noch nie gegeben.

Am Ende bleibt, dass es wieder ein Kanal mehr ist, mit dem ich mich beschäftigen kann. Letztlich ist meine Zeit begrenzt, innerhalb derer ich mich den Medien widmen kann. Gibt es dir bekannte Untersuchungen, wie sich der Medienkonsum aufteilt?

Natürlich gibt es das. Solches Grundlagenmaterial ist für uns Mediaplaner immens wichtig. Da gibt es die ARD/ZDF-Langzeitstudie zur Mediennutzung, die schon seit Jahrzehnten läuft und sehr viel Aufschluss darüber liefert, inwieweit sich das verändert. Aus diesen Studien wissen wir, dass es tatsächlich zehn bis zwölf Stunden sind, die wir uns mit Medien beschäftigen. Diese Nutzungszeit steigt nicht mehr, das heißt, wir haben den Zenit erreicht oder überschritten. Nach einer Studie ist die Nutzungsdauer schon wieder rückläufig. Mehr können wir uns den Medien nicht aussetzen. Die Verteilung ist schon ziemlich aufschlussreich. Der durchschnittliche Deutsche guckt nach wie vor vier Stunden täglich fern, plus eine Dreiviertelstunde Videonutzung im Internet. Das zweitstärkste Medium ist Radio mit über drei Stunden Nutzung am Tag, plus eine halbe Stunde Musik-Streaming. Dagegen verblasst die rein informative Internetnutzung mit einer guten halben Stunde am Tag. Zeitschriften- und Zeitungsnutzung kommt auf zwanzig Minuten – das ist dann im Vergleich recht wenig. Aber: Jeder Deutsche liest täglich eine halbe Stunde in einem Buch. Das ist schön. Die neuen Medien fressen sich in unseren Tag, aber sie verdrängen die anderen Medien nicht. Das ist in der Medienwelt immer faszinierend gewesen, dass noch nie ein Medium gestorben ist. Ich weiß nicht, wie oft das Kino schon totgesagt wurde. Als das Fernsehen aufkam, sagte man das. Der nächste Todesstoß war das Privatfernsehen. Videos. DVDs. Streamingdienste. Erst Corona konnte das Kino ausbremsen. Seit wir aus dem Lockdown raus sind, ist es schwierig, ein Ticket zu bekommen.

Die Streamingdienste Netflix, Amazon Prime und Disney Plus fressen sich mehr und mehr in unseren Tagesablauf. Die Nutzung wird sich in den nächsten zehn Jahren sicherlich auch über die Generationen hinweg verändern. Aber auch dann wird das Fernsehen nicht weg sein.

Gab es nicht von Netflix ein erstaunliches Experiment in Frankreich?

Genau! Sie haben Versuche mit linearem Fernsehen gestartet. Schon als Netflix aufkam, gab es alsbald einen kleinen Einbruch, wo Leute abgesprungen sind, denen das Prinzip, ihr eigenes Fernsehprogramm zu kuratieren, zu anstrengend war. Jeder, der Netflix nutzt, weiß auch, dass es manchmal etwas länger dauert, einen Film auszusuchen, als ihn zu sehen. Fernsehen hat, und das darf man nicht unterschätzen, eine strukturierende Fähigkeit. Jeder Mensch muss Struktur und Rituale in seinen Tag bringen. Man steht morgens auf zum Frühstück, und das Tageswerk endet um 20:00 Uhr vor dem Fernseher. Ich habe den Tag hinter mich gebracht und meine Arbeit geschafft, ich habe den Haushalt einigermaßen in Schuss, die Kinder sind versorgt, und wir haben gegessen. Dann kommt die Tagesschau – das Acht-Uhr-Signal. Jetzt kann ich mich ohne schlechtes Gewissen auf die Couch lümmeln. Netflix ändert daran nichts!

Die Wichtigkeit dieser Struktur ist nicht zu unterschätzen, und das binge watching am Wochenende ist auch nicht jedermanns Sache.

Es bleibt nicht dabei, dass man nur seinen Fernsehkonsum kuratieren will und muss, das betrifft den gesamten Medienkonsum. Es wäre wunderbar, gäbe es eine sinnvolle Orientierungshilfe, um die Inhalte, die für uns gemacht sein könnten, finden zu können. Auf die Algorythmen ist – wie vorhin schon gesagt – kein Verlass. Wir werden mit unzähligen Serien und Filmen, Podcasts und Internetforen, Clubhouse und Buchneuerscheinungen allein gelassen.

Die Algorithemen sind nur die Summe dessen, was du in der Vergangenheit gemacht hast. Das interessiert uns häufig nicht mehr, was wir in der Vergangenheit gemacht haben, sondern wir möchten etwas Neues erfahren oder erleben. Der intelligente Algorithmus, der würde dir Dinge empfehlen, die du noch nicht konsumiert hast, aber in deine Denke passen könnten. Aber davon sind wir noch sehr, sehr weit entfernt. Aber du sprichst da ein wichtiges Thema an. Wie finde ich überhaupt etwas in dieser Vielfalt? Da fällt mir spontan die App Pinterest für Ideen und Impulse ein. Nehmen wir einmal an, du bereitest deine Hochzeit vor, planst einen Umzug oder willst einen Grillabend organisieren. Mit dem richtigen Stichwort wird dir ein Bündel an Ideen und Inspirationen präsentiert. Das macht den Erfolg dieser Plattform aus, dass sie öffnet und nicht einschränkt. Der Facebook-Algorythmus macht das genaue Gegenteil. Wenn der merkt, dass ich mich für Informationen zum Lockdown interessiere, dann liefert er mir nur noch Informationen zum Lockdown. Eine Überfütterung mit einem Thema möchte ich nicht. Jeder Mensch will Vielfalt und Abwechslung – das liegt in der menschlichen Seele. Aber davon sind wir im Internet sehr weit entfernt. Wenn wir uns einmal den Suchverlauf einer Person in YouTube anschauen, dann sehen wir in der rechten Spalte ein Potpourri an ähnlichen Alternativen zu den zuletzt gesehenen Beiträgen. Was passiert? Du klickst da auf irgendeinen Vorschlag und bleibst manchmal für zwei Stunden in YouTube hängen. Du hast dich von dir selbst führen lassen, und das hat Spaß gebracht.

Es ist aber nicht ganz das, was du angesprochen hast. Was du meinst, ist Search. Ich suche nach bestimmten Inhalten und möchte wissen, was mir dazu angeboten wird, woraus ich mir etwas auswählen könnte. Das wäre eigentlich die Aufgabe von Google. Das macht Google natürlich nicht. Google zeigt dir auf der ersten Seite, wenn irgend möglich, zuerst Google-Angebote, zweitens diejenigen, die Geld dafür bezahlen, bei dieser Suche gelistet zu werden. Auf den nächsten Seiten stehen vermutlich die Informationen, nach denen du eigentlich gesucht hast, aber so weit kommst du wahrscheinlich nicht. Nur zehn Prozent kommen über die erste Seite hinaus. Der Anspruch von Google war allerdings auch niemals, dir bei einer Suche behilflich zu sein, sondern dir Werbung zu zeigen.

Wäre es nicht schön, wenn wir durch alle Kanäle hindurch – analog und digital – die Inhalte kuratiert bekämen, die für uns gemacht sind?

Es gibt in den Algorithmen Wahrscheinlichkeiten. Wer sich für Reisen an die Ostsee interessiert, interessiert sich für Reisen und zu zehn Prozent auch für Reisen in die Berge. Das, was du meinst, ist ein sehr intelligenter Algorithmus, der dich viel besser verstanden hat, als die heutigen Algorithmen. Damit kannst du etwa 2050 rechnen. Das ist noch eine Weile hin, bis die KI soweit ist. Die heutigen Algorithmen haben mit Intelligenz nicht viel zu tun.

Wenn Algorithmen nicht in der Lage sind zu kuratieren, müssten wir uns an andere Gatekeeper halten. Aber auch die gibt es im Internet nicht mehr. Führt das nicht allgemein betrachtet zu einer offeneren Gesellschaft?

Eine fast philosophische Frage. Das Internet hat uns Zugang zu allen Informationen versprochen. Jeder Mensch auf der Welt bekommt Zugang zu jeder Information, die er wünscht. Das ist ein Traum. Der Traum der Menschheit würde die Bildung und die Demokratien voranbringen. Dass das nicht passiert – siehe Beispiel Arabischer Frühling –, hat mit dem Geschäftsmodell der Plattformen zu tun. Die wollen die Welt nicht besser machen. Die wollen Daten sammeln, Wahlen beeinflussen und Werbung verkaufen – nichts weiter. 

Wir haben kein freies Internet. Wir haben ein kommerziell ausgerichtetes Internet, das nicht vereint, sondern spaltet, das der Gesellschaft eher schadet, als dass es ihr nützt.

Das hat mit den Algorithmen zu tun. Wenn ich mich für rechtsextremistische Gedanken interessiere, weil ich gerade über die Regierung  sauer bin, und in den Plattformen anfange zu lesen, dann merkt der Algorithmus, dass mich diese Themen anscheinend bewegen. Fortan beschert er mir nur noch solche Informationen, sodass ich in einen Strudel völlig absurder Verschwörungstheorien hineingerate und abdrifte. 

Die AfD, die maximal eine Strahlkraft für 10 Prozent der Wähler*innen haben dürfte, ist die stärkste Stimme unter den politischen Parteien im Internet, weil sie es verstehen, diese Plattformen für sich zu nutzen, und weil die Aufregung, die Empörung und dieses Katastrophe-Rufen viel stärker auf den Menschen wirkt als positive Nachrichten. Diese Phänomene werden durch das Internet befeuert und verstärkt. Die Spaltung der Gesellschaft, die wir erleben und die auch wissenschaftlich dokumentiert ist, die werden wir wieder abstellen. Denn das kann so nicht weitergehen. Wir werden beide noch erleben, wie diese Plattformen reguliert werden. Wie genau das in einer Demokratie wie unserer passiert, ist heute noch nicht abzuschätzen. Du musst im Grunde genommen an das Geschäftsmodell ran.

Sir Timothy John Berners-Lee ist ein britischer Physiker und Informatiker

Timothy Berners-Lee, dem wir das Internet zu verdanken haben, der bastelt im Augenblick zusammen mit einigen Leuten am MIT an einem neuen Internet. Das heißt also an einem neuen Zugang zu Wissen. Die Grundvoraussetzung, die er dafür fordert, ist ein freies Internet, das nicht von außen beeinflusst werden kann, in dem ich keine Daten hinterlasse, die irgendjemand gegen mich oder für etwas anderes verwenden kann. Die Daten gehören mir! Das heißt, ich nutze die Informationen, die mir geliefert werden für Wissen oder Unterhaltung, wofür auch immer, ohne dass ich meine Daten hergeben muss.

MIT: Das Massachusetts Institute of Technology ist eine Technische Hochschule und Universität in Cambridge im US-Bundesstaat Massachusetts

Das gleiche gilt für Social Media. Wir wollen Facebook, wir wollen in Kontakt stehen mit Freund*innen, Verwandten, Kolleg*innen, mit Gleichdenkenden und Andersdenkenden. Das wird niemals wieder weggehen. Wir brauchen aber eine Plattform, die uns nicht beeinflusst. In dem Augenblick, wo eine solche Plattform gebaut würde, würde sie auch genutzt werden und Facebook mit der Zeit verdrängen. Facebook verliert jetzt schon Nutzer*innen, mehr allerdings in Richtung Instagram und TikTok. Was bei TikTok mit den Daten passiert, darüber wissen wir leider gar nichts, weil wir dazu keinen Zugang haben. Das kennen wir bereits von Facebook.

Auch hier spielt das Geschäftsmodell des Handels mit Daten eine entscheidende Rolle. Die neue Version des Internets kostet uns also Geld, weil sie nicht werbefinanziert wäre. Das kennen wir inzwischen von den Streamingdiensten und digitalen Abos. Das bedeutet einen Umdenkprozess, für etwas, was einen Wert für mich hat, auch etwas zu bezahlen. Wie schwer das ist, erleben die Zeitungen, die es gewohnt waren, Papier-Abos für 400 Euro im Jahr zu verkaufen. Das hat ganz gut funktioniert, bis plötzlich alle Informationen umsonst waren – das heißt werbefinanziert.

Aber die Leser*innen begreifen langsam, dass sie für wertige Informationen Geld bezahlen müssen. Und das wird auch für eine wertige Plattform der Fall sein. Das werden wir allerdings nicht in den nächsten zwei oder drei Jahren erleben. In der Europäischen Union, die manchmal ein zahnloser Tiger ist und manchmal brutal zuschlägt, sitzen sehr intelligente Menschen, die sich im Augenblick um nichts anderes Gedanken machen als darum, wie wir das Netz von den Monstern befreien.

Thomas, vielen Dank für dieses aufschlussreiche Gespräch!

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Von Eckard Christiani

Eckard Christiani ist ein Journalist, Kommunikationsberater und Grafikdesigner.