Der Professor für Fernsehwissenschaft, Lothar Mikos, lehrt Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf in Potsdam. Er lehrte in Aarhus, Barcelona, Berlin, Florenz, Glasgow, Göteborg, Kassel, Klagenfurt, London, Peking und Tarragona und gründete die Television Studies Section der European Communication Research and Education Association (ECREA). Ihn beschäftigen unter anderem die Fernsehtheorie, die Publikumsforschung und der internationale Handel mit Fernsehformaten. Wir wollten genauer von ihm wissen, wie es um das Leitmedium Fernsehen bestellt ist.
Die immense Intelligenzsteigerung elektronischer mobiler Alltagsgeräte wie Smartphones lassen das lineare Fernsehen im wahrsten Sinne alt aussehen. Bill Gates meinte sogar, das Leitmedium TV sei entthront und dem Tod geweiht. Ist das so?
Auf gar keinen Fall! Ich finde, dass in der aktuellen Diskussion ganz viele Begriffe durcheinandergeraten. In der internationalen sozialwissenschaftlichen Mediendiskussion gilt zum Beispiel Streaming – also Netflix und Amazon Prime – als Fernsehen. Wenn wir das also als Fernsehen betrachten – man kann darüber diskutieren, ob das so ist oder nicht –, dann wird das Medium Fernsehen immer stärker. Wir haben sogar gerade eine Situation, in der das lineare Fernsehen wieder Kraft gewinnt, weil mit Streaming kein Geld zu verdienen ist. Weil es so viele Anbieter gibt, vermutet man, dass Streaming ein tolles Geschäftsmodell ist. Ist es aber nicht. Aus diesem Grunde hat Netflix in Frankreich im letzten November einen linearen Kanal eingeführt, um das Publikum zu gewinnen, das sie sonst nicht erreicht hätten. Warum? Der Anbieter braucht viel Publikum, weil es sich sonst nicht lohnen würde, die Inhalte zu produzieren.
Da muss ich noch einmal nachfassen: Ist es tatsächlich so, dass Streamingdienste wie Netflix, Amazon Prime oder Disney Plus keine lohnenden Erfolgsmodelle sind?
Streaming allein ist kein Erfolgsmodell. Amazon Prime als Streamingdienst kann naürlich leben, weil es Amazon als Trader gibt.
Netflix finanziert seinen Content, seine Filme und Serien, nicht nur über die Abonnementgebühren, wie man vielleicht denkt, sondern mit Geld aus dem Finanzkapitalmarkt. NBC Universal bietet seit einem Jahr den Streamingservice Peacock TV an – mit einem Verlust von 900 Millionen Dollar. Das sind die Dimensionen, in denen wir uns bewegen. Netflix hat langfristige Schulden von über 28 Milliarden Dollar.
Worauf spekulieren die Anbieter?
Sie spekulieren auf den Aktienkurs, der sozusagen hochgejazzt worden ist. Netflix hat, seit sie streamen, finanztechnisch gesehen bis Ende 2020 einen negativen Cashflow. Sie finanzieren ihren Content darüber, dass sie Anleihen auf den Markt werfen, die von Investoren gekauft werden. Vor einem Dreivierteljahr hatten sie 33 unterschiedliche Anleihen am Markt, die alle mit zwischen fünf und gut sechseinhalb Prozent hochverzinst waren. Das sind einerseits natürlich hochattraktive Anleihen, die auf der anderen Seite aber als Junk Bonds gelten. Die Kreditwürdigkeit von Netflix bei den Ratingagenturen wie Moody’s oder Standard & Poor’s wird schlechter als die des Staates Italien bewertet. Sie würden aufgrund der Einschätzung ihrer Kreditwürdigkeit bei einer normalen Bank kein Darlehen bekommen.
Das Geschäft mit den Junk Bonds funktioniert allerdings nur so lange, wie die generellen Zinsen niedrig sind. In dem Moment, in dem die Notenbanken die Leitzinsen anheben, wird dieses Geschäft schwieriger. Aus dieser Perspektive ist Netflix eine Silicon Valley-Tech Company, die auf dem Markt Geld einsammelt und Cashflow generiert.
Aber noch einmal zurück zu der Frage der Zukunft des Fernsehens: Am Ende ist Fernsehen eine Definitionssache: Meint man die Sender? Meint man bestimmte Inhalte, die als Fernsehen gelten? Sind Fernsehserien, die die Öffentlich-Rechtlichen ausstrahlen, Fernsehen? Sind die gleichen Serien, wenn sie auf Netflix laufen, auch Fernsehen? Netflix produziert auch Filme. Also ist Netflix Filmproduzent? Oder Kino?
Amazon Prime hat im Frühjahr 2021 die Lizenz für einen linearen Kanal in Deutschland beantragt und bekommen. Ein Streamingdienst, der auch lineares Fernsehen anbieten wird. Der Grund hierfür ist, dass sie Sportrechte erworben haben. Disney Plus hat zeitgleich für acht Jahre die Sportrechte an der nordamerikanischen Eishockey-Liga erworben. Damit wird das Angebot von Disney Plus aufgewertet, denn auch dieser Dienst macht bislang Minus.
Die Großen wie NBC Universal, HBO Warner und Disney können ihre Streaming-Aktivitäten durch die übrigen Aktivitäten gegenfinanzieren oder Content für andere Bereiche herstellen, den sie dann aber auch im Streaming verwerten. So sind sie insgesamt besser abgesichert als beispielsweise Netflix.
„Fern sehen“ aus Verbraucher*innensicht bleibt immer das Gleiche. Bewegtbild sehen – außerhalb des Kinos. Allerdings hat sich die Art des Fernsehkonsums geändert. Das lineare Fernsehen hatte unseren Tag wunderbar getaktet. Morgen-Magazine, mittags die Drehscheibe, familientaugliche Nachmittagsserien und um acht Uhr die Tagesschau. Ab zwanzig Uhr fünfzehn beginnt der Abend. Das ist heute durch Binge-Watching aufgebrochen, der Tag hat gewissermaßen seine Struktur verloren.
Der Tag hat schon noch seine Struktur – nur nicht für alle gleichermaßen. Ich höre von ehemaligen Studierenden, die heute kleine Kinder haben und die sich freuen, dass es auf einem Sender um 19 Uhr das Sandmännchen gibt, dass sie rund um diese Sendung ihren Tagesablauf gestalten. Da ist die „alte“ Struktur noch vorhanden, obwohl sie es selber ablehnen würden, nach solchen Strukturen zu leben.
Die Diskussion darüber, dass junge Menschen kein lineares Fernsehen gucken, sondern eher streamen und ihr Programm lieber selber zusammenstellen, hat zweierlei Aspekte: Das „selber Kuratieren“ ist Zeit raubend und anstrengend – in meinem Bekanntenkreis haben die Leute darauf keine Lust mehr. Das Zweite ist, dass nicht ganz klar ist, ob die Entwicklung zum Streamen eine generelle oder eine generationenabhängige Entwicklung ist.
Seit es Fernsehen ab den 1960er-Jahren als Massenmedium gibt, gucken Jugendliche kaum fern. Das hat sich nie geändert. Das Verhalten ändert sich erst dann, wenn Menschen in eine Lebensphase eintreten, die mehr mit Häuslichkeit verbunden ist. In der Häuslichkeit hat man heute verschiedene Möglichkeiten: Die meisten werden einen Smart-TV zuhause haben, worüber auch gestreamt werden kann. Fernsehen findet heute aber auch über andere Geräte mit verschiedenen Angeboten statt. Die klassischen linearen Fernsehsender sind nur noch beliebige Angebote neben anderen.
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Kommen wir noch einmal zurück auf das Möbelstück Fernseher. Ein Fernseher kann künftig noch mehr Aufgaben als nur die Übertragung von Bewegtbildern übernehmen. Beispielsweise stellt man sich vor, dass alle Programme interaktiver werden. Produkte, die ich gerade in Serien oder Filmen sehe, kann ich spontan ordern. Oder ich kann – seit der Coronapandemie sehr beliebt – ein virtuelles Miteinander im sogenannten Social TV organisieren. Was kommt noch auf uns zu?
Im Prinzip kann man künftig mit Fernsehern alles das machen, was man heute schon mit dem PC oder Labtop machen kann. Deutschland ist ein Land, in dem moralische Diskurse eine große Rolle spielen, weswegen wir in manchen Bereichen nicht so weit entwickelt sind wie andere Länder. In Asien beispielsweise werden die Quoten live gemessen. Neben dem Moderator oder Showmaster sitzt ein Mensch mit seinem Labtop und schaut, ob die Quoten gerade rauf- oder runtergehen. Dann gibt es Ansagen: „Mach mal wieder einen Witz – wir brauchen wieder ein paar Zuschauer mehr.“
In Brasilien gibt es die Möglichkeit, dass in Serien oder Filme – während der Ausstrahlung – gezielt Produkte digital in die Handlung einmontiert werden, die beworben werden sollen. Solche Möglichkeiten werden natürlich mehr genutzt werden. In Deutschland gibt es heute schon eine Software, mit der ich Songs, die ich gerade im Radio höre, online bestellen kann. Das alles wird es künftig über alle möglichen Kanäle für unterschiedliche Produkte geben. Ob man das nutzt oder nicht, ist eine andere Sache.
Man hat den Eindruck, dass auf Netflix und Co. deutsche Produktionen auf dem Vormarsch sind. Täuscht der Eindruck?
Die lokalen Produktionen machen etwa zehn Prozent des Angebots aus. Ich denke, dass dieser Weg für Netflix der falsche ist. Das Interessante ist eine im Frühjahr veröffentlichte Studie, in der es um Video-on-demand geht. Dort wurden Angebot und Nutzung gegenübergestellt. In Deutschland sind beispielsweise gut zehn Prozent französische Produktionen zu sehen. Aber nur gut drei Prozent der Abonnenten schauen diese Serien oder Filme. 50 Prozent des Angebots sind amerikanische Produkte, diese werden aber von 70 Prozent der Zuschauer*innen gesehen. Die Menschen wollen also nachweisbar eher amerikanische als lokale Serien und Filme sehen. Gemeinhin wird eher das Gegenteil behauptet.
Also bleibt Babylon Berlin eine große Ausnahme?
Wenn man sich die Mühe macht und Einschaltquoten miteinander vergleicht, kommt man bisweilen zu erstaunlichen Ergebnissen. Die berühmte amerikanische Serie Mad Men hatte zur zweiten Staffel weltweit acht Millionen Zuschauer. Wenn man weiß, dass die Krankenhausserie In aller Freundschaft dienstagabends im Durchschnitt sieben Millionen Zuschauer*innen hat, dann ist das unglaublich wenig. Diese Art von amerikanischen Serien sind für ein besser gebildetes Publikum gemacht, das aber weltweit recht klein ist. Ein anderes Beispiel ist House of Cards. Kevin Spaceys Agentur wollte unbedingt diese Serie produzieren. Netflix hat seine Algorithmen „prüfen lassen“, wie gut Kevin Spacey beim Publikum ankommt. Laut einer norwegischen Studie haben lediglich zehn Prozent der Abonnent*innen weltweit House of Cards gesehen, eine Serie, über die sehr viel gesprochen wurde. Bei damals 120 Millionen Abonnent*innen weltweit macht das zwölf Millionen Zuschauer*innen. Da kann allein in Deutschland ein Münsteraner Tatort locker mithalten.
Worauf freuen Sie sich in der zukünftigen Fernsehwelt und was befürchten Sie?
Ich war an der Filmuniversität Babelsberg der Buhmann, der Film scheinbar gering geschätzt und sich für Fernsehen eingesetzt hat. (lacht)Ich habe meinen Studierenden in der ersten Sitzung Umsatzzahlen der unterschiedlichen Branchen präsentiert, an denen man ablesen konnte, dass mit Fernsehen zehnmal mehr Umsatz als mit Film generiert wird. Meine Frage an die Student*innen: „Und was glaubt ihr, wo ihr später mal einen Job kriegt?“
Befürchten ist das falsche Wort. Fernsehen wird es immer geben, in welcher Form man das auch immer empfängt. In der langen Geschichte des Fernsehens hat es Wellenbewegungen gegeben. Von 2000 bis 2010 hatten wir eine große Diskussion um Reality-
Shows: DSDS, Big Brother und so weiter. Seit fünf oder sechs Jahren geht es um Serien. Was die Zukunft bringt, weiß man nicht. Entweder eine Renaissance des Reality TV oder eine ganz neue Idee. Bei solchen Fragen halte ich es immer mit dem Quantenphysiker Niels Bohr: „Prognosen sind immer schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.”
Was man aber weiß, ist, dass wir Zuschauer*innen aus einem immer größeren Angebot auswählen können, das uns auf verschiedenste Art erreichen wird. Dass wir in Zukunft Fernsehen vermehrt auf unseren Smartphones – zum Beispiel im Zug – empfangen werden, glaube ich eher nicht. Wir brauchen für den visuellen Genuss mindestens Tabletgröße. In Autos wird es vermehrt, ähnlich wie in Flugzeugen, Monitore in den Rückenlehnen der Fahrersitze geben. Bewegtbild wird allgegenwärtiger werden.
Die öffentlich-rechtlichen Sender bekommen zunehmend ein Legitimationsproblem. Auf der anderen Seite machen die Privatsender nicht mehr so viel Gewinn wie noch vor zehn Jahren. Aus diesen Gründen wird sich auf der Angebotsseite einiges verändern. Ich gehe davon aus, dass Netflix nur noch vier oder fünf Jahre durchhält. Das Angebot könnte dann unter Facebook Netflix oder Apple Netflix zu sehen sein. Die Frage wird sein, wann es für die Medienunternehmen sinnvoll ist, zu streamen, um Gewinne zu erzielen. Netflix gibt 100 Millionen Dollar für eine Staffel von The Crown aus. Im Prinzip sind die Abonnements zu günstig, um solch teuren Content zu refinanzieren. Entweder müssen die Abogebühren erhöht oder die Produktionskosten minimiert werden.
Oder Werbung verkauft werden!
Richtig! Das ist die größte Herausforderung für Netflix und Co., andere Einnahmequellen zu generieren: Werbeplätze anzubieten oder den produzierten Content weiterzuverkaufen.
Schauen wir uns einmal die Logik von Netflix an: Wir haben Abonnent*innen, und nur für diese kaufen wir Content ein. Das ist eine vollkommen andere Logik als früher, als irgendein Produzent fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen eine Serie hergestellt hat. Die Sender haben dann Zweitverwertungsrechte verkauft oder DVDs herausgebracht. Da war die Logik: Ich habe ein Produkt, das ich auf so vielen Plattformen wie nur möglich verbreite, um so viel Geld wie nur möglich zu verdienen. Netflix macht es genau umgekehrt. Sie sind praktisch so etwas wie Sammler von Content für ihre Abonnenten. Nein, meiner Einschätzung nach ist Netflix lediglich für die Investoren eine Geldmaschine. Was wir als Konsument*innen damit anstellen, ist völlig egal. Wenn man sich anschaut, was Netflix produziert, merkt man, dass sie keine Ahnung vom Business haben. Manchmal landen sie einen Glückstreffer. Letzten Endes ist Netflix ein Unternehmen für den Finanzkapitalmarkt – wie Amazon, Apple, Google oder Uber auch. Aber das Thema hatten wir schon. (lacht)
Das Angebot wächst, die Orientierung wird immer schwieriger. Wie finden Sie die für sich interessanten Beiträge?
Ich habe noch die gute alte Fernsehzeitschrift. Der Markt für solche Zeitschriften ist immer da. Ich bin ein visueller Mensch und lese Buch- oder Magazinseiten fotografisch. Ein Blick auf die Doppelseite gibt mir Orientierung. Das funktioniert digital nicht.
Ein Aspekt ist noch wichtig: Wenn das Angebot immer größer und somit individueller wird, wird ein Nachteil sein, dass es immer weniger Gemeinsamkeiten gibt. Im Kleinen gibt es das jetzt schon. Vor fünf Jahren sahen meine Studierenden noch sogenannte Must-watch-Serien. Das waren so Serien wie Breaking Bad oder Mad Men. Das hatten alle geguckt. Wenn ich heute frage, nennen alle unterschiedliche Produktionen.
Die Folge: Man wird künftig nicht mehr viel Geld mit Content verdienen können. Das goldene Zeitalter der Massenmedien ist vorbei!
…
Wagen Sie noch einen Ausblick in die Fernsehwelt der Zukunft?
Wenn wir ganz weit in die Zukunft gehen, werden wir irgendwann Chips implantiert haben, über die wir unterschiedliche Arten von Content empfangen, auf eine Brille projizieren oder direkt in Hirn spielen lassen können. Das werden wir beide allerdings nicht mehr erleben. Eins ist allerdings klar: Wenn neue Übertragungswege entstehen, sterben nicht gleich die alten Techniken. Das Kino wurde schon oft totgesagt. Nach Corona werden wir sehen, wie lebendig das Kino ist.
Binge-Watching ist auch kein neues Phänomen, ist allerdings ein Massenphänomen geworden. Als das Home-Entertaiment mit Videokassetten aufkam, konnte man auch schon Serien staffelweise erwerben und am Stück genießen. Süchtig nach einer Kulturtechnik zu sein, gab es schon immer. In der Literatur gibt es den Begriff Pageturner für ein fesselndes Buch. Oder denken wir an den deutschen Begriff Leseratte – das ist wie Binge-Watching, nur positiver besetzt.
Herr Prof. Mikos, vielen Dank für dieses Gespräch!
Das gesamte Interview in Band zwei wie wir uns morgen unterhalten lassen und informieren wollen – Erscheinungstermin Juli 2021