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Die Zukunft der Medizin

In den Laboren und Forschungseinrichtungen weltweit brodelt es. Eine Welle aus Enthusiasmus und Anspannung durchzieht die Reihen der Biolog:innen und Mediziner:innen, die Zeugen einer nie dagewesenen Entwicklung werden. Es ist ein Optimismus, der von immens großen Fortschritten in unzähligen Bereichen genährt wird und die Grenzen des Vorstellbaren sprengt. 

Plötzlich sind Dinge möglich, die noch vor Kurzem als reine Utopie galten: die Heilung von Krebs, die Programmierung von Zellen, das Züchten künstlicher Organe, die Verbindung des Gehirns mit Maschinen, die Manipulation von Genen, die Bekämpfung von Krankheiten per Knopfdruck und eine Lebensverlängerung um 20, 30 Jahre. Die Aussicht darauf, die Menschheit nicht nur gesünder, sondern auch klüger, hübscher und jünger zu machen, ist greifbar geworden.

Zwei Chirurgen beobachten hochpräzise programmierbare automatisierte Roboterarme, die Patienten in einem High-Tech-Krankenhaus operieren.

Expert:innen, Forscher:innen und Wissenschaftler:innen sind sich einig: Die Medizin steht am Anfang einer umfassenden Revolution. Die Menschheit befindet sich auf dem Weg in eine technologisierte, datengetriebene und digitale Gesundheitswelt. Eine Welt, in der Diagnose und Therapie von Krankheiten auf völlig neue Art und Weise möglich sind. Eine Welt, in der Medikamente uns ein längeres und gesünderes Leben ermöglichen sollen.

Die Digitalisierung des medizinischen Sektors ist der Auslöser für diese radikale Revolution im Gesundheitswesen. Durch die Kombination von Wissen aus verschiedenen Disziplinen wie Biologie, Informatik und Robotik können Krankheiten und Patientendaten in Sekundenschnelle analysiert werden. Computer sind bereits heute in der Lage, Hautkrebs besser zu erkennen als Ärzte. Biotech-Unternehmen wie Moderna gehen sogar so weit, den „Code des Lebens“ umzuschreiben und menschliche Zellen mit neuen Anweisungen zu versehen. Die Genschere CRISPR/Cas birgt das Potenzial, alle lebenden Wesen zu verändern und den Menschen zu einem leistungsfähigeren Organismus zu machen. Doch während die Möglichkeiten faszinierend sind, gibt es auch Bedenken bezüglich Biowaffen und Eugenik.

Eine weitere bahnbrechende Technologie ist das Bioprinting, bei dem Organe aus dem 3-D-Drucker hergestellt werden können. Die Vision, den chronischen Mangel an Spenderorganen zu beenden, rückt immer näher. Doch mit diesen Entwicklungen gehen auch ethische Fragen einher, die eine breite Debatte über die Zukunft der Medizin erfordern.

Wir stehen am Rande einer neuen Ära in der Medizin. Eine Ära, die uns vor einzigartige Herausforderungen stellt, aber auch unglaubliche Chancen bietet. Es ist an uns, diese Revolution mit offenen Augen und einem kritischen Blick zu betrachten und eine Diskussion über die Grenzen und Möglichkeiten dieser neuen Gesundheitswelt anzustoßen.

Doch was genau ist die uns bevorstehende Revolution? Sie fußt auf datenbasierten und stark personalisierten medizinischen Ansätzen und präziseren Diagnosen. Diese vielversprechenden Entwicklungen werden von Start-ups im Silicon Valley und großen Unternehmen weltweit vorangetrieben. Ein bedeutendes Gebiet der Investitionen ist die digitale Biologie, die sich mit dem Ziel beschäftigt, neurodegenerativen Krankheiten wie Alzheimer oder Parkinson entgegenzuwirken. Ein Unternehmen namens Denali Therapeutics startete im Jahr 2015 mit einer beachtlichen Anfangsfinanzierung von 217 Millionen Dollar und verspricht bahnbrechende Fortschritte. Der neue Optimismus gründet sich auf den erheblichen Fortschritten in den Bereichen Genetik und bildgebende Diagnostik. Die Kosten für die Sequenzierung des menschlichen Genoms sind in den letzten zehn Jahren von Millionen auf wenige Hundert Dollar gesunken. Zudem ermöglicht die bildgebende Diagnostik bereits heute, einen Blick in die Köpfe der Menschen auf der Ebene der Gehirnzellen zu werfen. Im Silicon Valley wird die Entschlüsselung der Biologie als die nächste weltverändernde Idee betrachtet, wobei der Mensch vor allem als eine mathematische Herausforderung angesehen wird.

Bisher wurde der Medizinmarkt von einigen globalen Pharmakonzernen beherrscht, doch nun drängen Hunderte von Biotechnologie-Start-ups und Technologieriesen auf den Markt. Egal wer am Ende das Rennen macht, die Biotechnologie wird die Pharmaindustrie ablösen.

Die medizinische Branche zählt zu den maßgeblichen Bereichen, in denen künstliche Intelligenz (KI) zum Einsatz kommt. Durch den Einsatz von lernenden Maschinen können große Mengen an Daten analysiert werden, darunter biologische Informationen und Ergebnisse von Genomanalysen, die von einem einzelnen Menschen nicht verarbeitet werden könnten. Wissenschaftler der Stanford-Universität haben beispielsweise eine lernende Software entwickelt, die in der Lage ist, Herzrhythmusstörungen zu erkennen. Hierbei kommt ein sogenannter Deep-Learning-Algorithmus zum Einsatz, der aufgrund seiner mehrschichtigen Struktur künstlicher neuronaler Netze in der Lage ist zu lernen. Die Software erkannte im Test Herzrhythmusstörungen schneller und präziser als Ärzte. Dieser Fortschritt wird durch das Engagement großer IT-Konzerne wie IBM weiter vorangetrieben. IBMs Supercomputer Watson wird bereits in der Onkologie eingesetzt, um personalisierte Krebstherapien zu ermöglichen. Auch Google und seine Tochtergesellschaft DeepMind entwickeln KI-Systeme für medizinische Anwendungen. Diese sollen Krankheitsgeschichten und Testergebnisse analysieren und anhand der gewonnenen Erkenntnisse vor drohenden Krankheiten warnen. Viele Experten sind davon überzeugt, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis vollständig autonom arbeitende Diagnosesysteme möglich sind. Dennoch bleibt die Frage, ob die Menschen bereit sind, diesen Systemen zu vertrauen.

Große Technologieunternehmen wie Google, Amazon, Facebook, Microsoft und Apple drängen verstärkt in den Bereich der Medizin. Google hat beispielsweise das Unternehmen Verily gegründet, das sich auf medizinische Forschung spezialisiert hat. Mit ihrem technologischen Know-how und Zugang zu großen Datenmengen sind diese Unternehmen bestens aufgestellt, um die Infrastruktur für die digitale Ära des Gesundheitswesens zu schaffen. Verily arbeitet unter anderem an der Entwicklung von Chirurgierobotern, Biosensoren und einer Plattform für Gesundheitsdaten. Auch Apple setzt auf Sensorik und plant, die Apple Watch zu einem Gesundheitssensor weiterzuentwickeln. Die Apple Watch verfügt über leistungsfähige Apps, die sie zum perfekten Gerät für einen gesunden Lebensstil machen. Und sie kann Ärzt:innen und ihre Patient:innen in unterschiedlichen Bereichen wie Herzgesundheit, Mobilität, Aktivität, Medikamente und mehr unterstützen. Finanziell lohnt sich dieser Schritt definitiv, da die Regierung in den USA über 20 Prozent ihrer Ausgaben in das Gesundheitssystem investiert. 

Die Entdeckung der DNA ebnete den Weg für die Gentechnik, die zu einer Schlüsseltechnologie der Zukunft wird. Jennifer Doudna hat das Editieren von Genen maßgeblich vorangebracht und dafür 2020 den Nobelpreis für Chemie erhalten. Ihre Geschichte zeigt, wie spannend Wissenschaft sein kann.

Jennifer Doudna ist eine US-amerikanische Biochemikerin und Molekularbiologin an der University of California, Berkeley. 2020 wurde ihr gemeinsam mit Emmanuelle Charpentier der Nobelpreis für Chemie zugesprochen.
Fotografie: ©Christopher Michel

Bis 2019 ging der Nobelpreis für Chemie 177-mal an Männer und lediglich 5-mal an Frauen. 2020 kamen Jennifer Doudna und Emmanuelle Charpentier hinzu: Sie erhielten den Preis für die Entwicklung einer Methode zur Genom-Editierung, die sogenannte CRISPR/Cas-Methode

Jennifer Doudna selbst gelangte schon in jungen Jahren zu dieser Erkenntnis, als sie im beeindruckenden Buch Die Doppelhelix von James Watson las, welche entscheidende Rolle bei der Entdeckung der Struktur des DNA-Moleküls durch Watson und Francis Crick deren Kollegin, die Strukturbiologin und Kristallografin Rosalind Franklin spielte.

Das Humangenomprojekt (HGP) startete im Jahr 1999 mit dem Ziel, das menschliche Genom komplett zu kartieren. Im Jahr 2003 wurde das Projekt abgeschlossen und lieferte Erkenntnisse über Struktur, Organisation und Funktion der menschlichen Gene. Heutzutage ist eine DNA-Analyse dank der immer größeren Rechenleistung von Computern nicht mehr aufwändiger als ein großes Blutbild. Da die Ursache vieler Krankheiten wie Diabetes, Alzheimer oder Krebs in den Genen liegt, liegt die Hoffnung von Ärzten, Patient:innen und Unternehmen auf diesem Forschungsgebiet. Obwohl die Gentherapie noch nicht ausgereift ist, wurden bereits einige Medikamente in Europa und den USA zugelassen. Patient:innen mit erblich bedingter Blindheit oder Bluterkrankheit konnten bereits erfolgreich behandelt werden. Experten können bereits Genome lesen und streben nun danach, Gene selbst zu schreiben. Mit der revolutionären CRISPR-Technologie können einzelne Gene gezielt ausgeschnitten, eingesetzt sowie ein- und ausgeschaltet werden.

Auch die Krebsforschung arbeitet an personalisierten Therapien auf der Grundlage von Gentechnik, da Krebs mit pauschalen Methoden oft schwer zu bekämpfen ist. Ein weiteres vielversprechendes Thema sind Immuntherapien, bei denen das körpereigene Abwehrsystem im Kampf gegen Tumore eingesetzt wird. Eine Immuntherapie nutzt sogenannte Checkpoint-Inhibitoren, um das Immunsystem zu unterstützen. Diese Blocker verhindern, dass Krebszellen sich mit Checkpoint-Proteinen tarnen und unentdeckt bleiben. Ein anderer Ansatz ist die Injektion von im Labor vorbereiteten T-Zellen, die Krebszellen anlocken und zerstören. Obwohl diese Ansätze vielversprechend sind, können sie auch zu Nebenwirkungen führen. Die Entwicklung von Impfstoffen gegen Krebsarten, die durch Viren verursacht werden, ist ebenfalls ein Schwerpunkt der Forschung. Obwohl der Krebs noch nicht vollständig besiegt ist, bieten digitale Instrumente zahlreiche neue Möglichkeiten für die Forschung und Behandlung.

Der Apple-Park ist ein Gelände in Cupertino im kalifornischen Silicon Valley und gleichzeitig der Hauptsitz von Apple.

Künstliche Intelligenz (KI) spielt eine immer größere Rolle in der Medizin der Zukunft. Durch das Sammeln und Analysieren großer Datenmengen kann KI helfen, Krankheiten frühzeitig zu erkennen und die Wirksamkeit von Behandlungen zu verbessern. Ein Beispiel dafür ist die Bilderkennung, bei der KI-Algorithmen eingesetzt werden, um medizinische Bilder wie Röntgenaufnahmen oder MRT-Scans zu analysieren und nach Anomalien zu suchen. KI kann auch genutzt werden, um personalisierte Therapien zu entwickeln, indem sie große Mengen an Patientendaten analysiert und Muster und Zusammenhänge identifiziert. Dies ermöglicht Ärzten, Behandlungspläne auf die individuellen Bedürfnisse jedes Patienten zuzuschneiden. Ein weiteres Einsatzgebiet von KI ist die robotergestützte Chirurgie. Roboterarme, die mit KI ausgestattet sind, können präzisere und weniger invasive Operationen durchführen, was zu schnelleren Genesungszeiten und weniger Komplikationen führt. Trotz der vielen Vorteile von KI gibt es jedoch auch Bedenken hinsichtlich Datenschutz und ethischer Fragen, die im Zusammenhang mit der Nutzung von Patientendaten und der Automatisierung von medizinischen Entscheidungen auftreten können.

Apple Watch mit leistungsstarken Sensoren und fortschrittlichen Gesundheitsfeatures

Die Zukunft der Medizin bietet ein enormes Potenzial, um die Gesundheitsversorgung zu revolutionieren und die Lebensqualität der Menschen zu verbessern. Durch den Einsatz von Technologien wie künstlicher Intelligenz, Genomsequenzierung, 3D-Druck und synthetischer Biologie können wir Krankheiten früher erkennen, personalisierte Therapien entwickeln und künstliche Organe herstellen. Die Forschung konzentriert sich auch auf die Langlebigkeit und das Verlangsamen des Alterungsprozesses. Allerdings gibt es Herausforderungen – neben ethischen Fragen und dem Datenschutz –: die Kosten der neuen Technologien. Es bleibt abzuwarten, wie schnell sich diese Entwicklungen in der medizinischen Praxis durchsetzen und wie sie die Patientenversorgung verändern werden.

Ein Ingenieur demonstriert einen 3D-Drucker für den Druck einer Leber zur Transplantation

Die Einführung der digitalen Medizin bringt große Veränderungen für die Gesundheitssysteme mit sich, die bisher darauf nicht vorbereitet sind. Es ist notwendig, neue Rahmenbedingungen zu schaffen, um sicherzustellen, dass alle Menschen von den Vorteilen der digitalen Medizin profitieren können. Es müssen klare Kriterien festgelegt werden, nach denen bestimmte Patient:innen Zugang zu innovativen Therapien erhalten. Es darf nicht sein, dass die Krankenkassen entscheiden, ob sich eine Gentherapie bei einer älteren Person noch lohnt oder nicht. Es ist wichtig, dass die Politiker alle Beteiligten einbinden und Bedenken ausräumen, um eine erfolgreiche Einführung der digitalen Medizin zu ermöglichen. Darüber hinaus müssen auch Fragen des Datenschutzes und der Sicherheit der digitalen Patientendaten geklärt werden, um das Vertrauen der Menschen in diese neue Technologie zu gewährleisten.

Es ist unbestreitbar, dass eine neue Welt im Anmarsch ist, und wir wissen noch nicht, wie sie aussehen wird oder wer davon profitieren wird. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, den Fortschritt zu verstehen, damit wir uns darauf einstellen und darüber diskutieren können.

3D-Drucktechnologie: ein medizinisches Gerät wird herstellt – durch KI erzeugt.

Der Fortschritt ist unaufhaltsam, und das ist positiv: Die Geschichte zeigt, dass es der Menschheit mit jeder Dekade besser geht. Doch das Tempo des Fortschritts erhöht auch den Druck, sich frühzeitig mit möglichen Zukunftsszenarien auseinanderzusetzen. In der Vergangenheit wurde über Therapien mit Stammzellen gesprochen, doch die Technologie entwickelte sich langsam. Doch wenn sich nun in einem Jahr ereignet, was zuvor ein Jahrzehnt gedauert hätte, können wir nicht passiv warten, sondern müssen frühzeitig über die gesellschaftlichen und ethischen Probleme dieser Entwicklungen diskutieren.

Die auf uns zukommenden Fragen sind von enormer gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, politischer und ethischer Bedeutung: Wird jeder ein längeres und gesünderes Leben führen können? Wird Gesundheit zum Statussymbol? Sollte alles, was medizinisch möglich ist, auch getan werden? Selbst wenn es um Eingriffe in die Keimbahn oder um ungeborenes Leben geht? Wer entscheidet, welche Experimente und Therapien zulässig sind? Wer gestaltet den Weg in die Zukunft der Medizin?

Natürlich werden nicht alle Ideen der Forscher funktionieren, und es wird Irrwege und Gefahren geben. Doch selbst wenn das, was sich am Horizont abzeichnet, erst in 15 Jahren Realität wird und anders kommt als erwartet, können wir jetzt noch Einfluss auf die Gestaltung der Zukunft nehmen. Bevor sie von wenigen gestaltet wird.

Wie sollen wir also mit diesem neuen Zeitalter der Genetik umgehen? In dem eine neue Medizin oder ein neuer Mensch entstehen könnten? Das ist keine rhetorische Frage, sondern bald schon Realität. Mit Technologien wie CRISPR können Gene präzise manipuliert werden, ähnlich wie in einem Textverarbeitungsprogramm. Die Technologie ist noch jung, aber in China und den USA wird bereits an Embryonen experimentiert. Eingriffe in die Keimbahn und vererbbare Veränderungen sind für Wissenschaftler keine große Herausforderung mehr.

Wie weit ist der Weg zu ewiger Jugend? Zu einer Welt ohne Krebs? Zu Designerbabys? Zur Eugenik? Es braucht kein Expertenwissen, um zu verstehen, dass sich der Weg der Menschheit grundlegend ändern wird, wenn wir unser eigenes Schicksal in unserem Erbgut entschlüsseln und technologisch neu schreiben können.

„Es ist erstaunlich, dass es bisher keine intensive Debatte über die enormen Herausforderungen gibt, die auf uns zukommen“, sagt der Theologe und Ethiker Peter Dabrock. Dieser Beitrag hat das Ziel, auf diese neue Zukunftswelt hinzuweisen und Mosaiksteine zu benennen. Es geht darum, dass die Mehrheit der Menschen versteht, was passiert, damit nicht nur eine Elite oder wenige Konzerne davon profitieren.

Es liegt an uns und unserem Wissen über die bevorstehende medizinische Revolution, ob diese neue digitale Gesundheitswelt ein Traum oder ein Albtraum wird.

Beitrag von Eckard Christiani in der aktuellen Ausgabe
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Von Eckard Christiani

Eckard Christiani ist ein Journalist, Kommunikationsberater und Grafikdesigner.